Der Generalanwalt schlägt dem EuGH in seinen Schlussanträgen vom 4.5.2017 (Rs. C-566/15) vor, dass Art. 18 und 45 AEUV den Regelungen des deutschen MitbestG nicht entgegenstehen, nach denen nur Arbeitnehmer, die bei in Deutschland ansässigen Betrieben einer Gesellschaft oder eines Konzerns beschäftigt sind, bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat aktiv und passiv wahlberechtigt sind.
Zwar umfasse die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gem. Art. 45 Abs. 2 AEUV die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat unterfalle bei einem weiten Verständnis auch dem Begriff „sonstige Arbeitsbedingungen“.
Jedoch sei Art. 45 AEUV auf die bei Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer nicht anwendbar. Für einen Bezug zu einem der von Art. 45 AEUV in Betracht gezogenen Sachverhalte genüge nicht bereits der Umstand, dass die Gesellschaft, bei der ein Arbeitnehmer beschäftigt sei, im Eigentum oder unter der Kontrolle einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat stehe. Aus dem Blickwinkel der Situation des Arbeitnehmers stelle der Umstand, dass der Arbeitgeber von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft übernommen werde, nämlich einen externen Faktor dar, der keinen Bezug zur Tätigkeit des Arbeitnehmers aufweise.
Für in Betrieben in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer sei dies anders zu sehen. Wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten wollten, hätten sie jedoch als Wanderarbeitnehmer nach Art. 45 AEUV nur Anspruch auf Gleichbehandlung mit den inländischen Arbeitnehmern im Aufnahmemitgliedstaat, damit sie dort im Einklang mit den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben könnten. Dagegen verschaffe Art. 45 AEUV nicht das Recht, die Arbeitsbedingungen, die für sie in ihrem Herkunftsmitgliedstaat bestünden, in einen anderen Mitgliedstaat zu „exportieren“. Wanderarbeitnehmer müssten im Normalfall „den einzelstaatlichen Arbeitsmarkt so nehmen, wie er ist“.
Auch wenn der Gedanke „sympathisch“ sei, dass in der Union jedem bei einer Unternehmensgruppe beschäftigten Arbeitnehmer unabhängig davon, wo sich sein Arbeitsplatz befinde, dieselben Mitwirkungsrechte im Konzern zustehen sollten, sei festzustellen, dass beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts die Beteiligung der Arbeitnehmer an der Leitung inländischer Gesellschaften in den Mitgliedstaaten nicht Gegenstand einer Harmonisierung auf europäischer Ebene sei. Mangels einer solchen Harmonisierung stehe es den Mitgliedstaaten frei, ob sie die in anderen Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer des Konzerns in die nationale Beteiligungsreglung einbezögen. Somit seien die Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nicht verpflichtet, gemäß Art. 45 AEUV den Arbeitnehmern, die ihr Hoheitsgebiet verlassen, um in einem anderen Mitgliedstaat eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, dieselben Mitwirkungsrechte einzuräumen wie den im Inland beschäftigten Arbeitnehmern, sondern es stehe ihnen weiterhin frei, dies auf der Grundlage ihres innerstaatlichen Rechts zu tun.
Jedenfalls seien die Regelungen des MitbestG und ihre Auslegung durch das Ziel gerechtfertigt, die Mitwirkung der Arbeitnehmer in der Gesellschaft im Einklang mit den nationalen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Besonderheiten zu gewährleisten. Darüber hinaus stünden die Regelungen in angemessenem Verhältnis zu diesem Ziel , d.h., dass sie geeignet seien, die Verwirklichung der Mitwirkung der Arbeitnehmer in der Gesellschaft im Einklang mit den nationalen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Besonderheiten zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich sei.
In der Regel folgt der EuGH den Schlussanträgen der Generalanwälte. Mit einer Entscheidung des EuGH ist sicher in den nächsten Monaten zu rechnen. Anschließend wird das Kammergericht im Verfahren nach § 98 AktG abschließend über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der TUI zu entscheiden haben, die in Deutschland rund 10.000 und in den anderen Mitgliedstaaten der EU rund 40.000 weitere Arbeitnehmer beschäftigt.
RA FAArbR Axel Groeger, Bonn
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