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Aktuell in der ZFA

Europäische Rechtsetzung zum Mindestlohn (Rudkowski, ZFA 2024, 181)

Mit der Mindestlohn-RL (RL (EU) 2022/2041) überschreitet die EU ihre Normsetzungskompetenzen. Wollte man die primärrechtswidrige Richtlinie dennoch ins nationale Recht umsetzen, wären die Kriterien der Mindestlohnfindung nach § 9 MiLoG anzupassen. Für das Koalitions- und Tarifrecht entstünde kein Anpassungsbedarf.

I. Einleitung
II. Überblick über die Mindestlohn-RL

1. Rahmen für die Bemessung der Mindestlohnhöhe
2. Förderung der tariflichen Lohnfestlegung
III. Primärrechtswidrigkeit der Mindestlohn-RL
1. Kompetenznorm für die Mindestlohn-RL
2. Regelungssperre „Arbeitsentgelt“ (Art. 153 Abs. 5 Var. 1 AEUV)
a) Regelungssperre für die Entgelthöhe
b) Regelung der Entgelthöhe durch die MiLoRL
3. Regelungssperre „Koalitionsrecht“ und „Streikrecht“ (Art. 153 Abs. 5 Var. 2, 3 AEUV)
a) Tarifrecht als Regelungssperre nach Art. 153 Abs. 5 AEUV
b) Koalitions- und Arbeitskampfrecht als Sperre nach Art. 153 Abs. 5 AEUV
4. Ergebnis
IV. Das nationale Recht aus der Perspektive der Mindestlohn-RL
1. Art. 9 Abs. 3 GG als Prüfungsmaßstab für die Richtlinienumsetzung
2. Der gesetzliche Mindestlohn (Art. 5–8 MiLoRL)
a) Persönlicher Anwendungsbereich (§ 22 MiLoG)
aa) Autonomer Arbeitnehmerbegriff nach der Richtlinie
bb) Privilegierung von Beamten
cc) Ausnahme für Praktikanten
dd) Ausnahme für Minderjährige
ee) Ausnahme für Auszubildende
ff) Ausnahme für Langzeitarbeitslose
b) Kriterien der Lohnfindung
c) Verfahren der Mindestlohnanpassung
d) Anpassungsturnus
3. Förderung tariflicher Lohnsetzung unabhängig von der Tarifabdeckung (Art. 4 Abs. 1 MiLoRL)
a) Kapazitätsförderung (lit. a)
aa) Begriff der „Kapazitätsförderung“
bb) Kapazitätsfördermaßnahmen im deutschen Recht
cc) Weitere Maßnahmen
(1) Erweiterung des Kreises der Verhandlungsberechtigten
(2) Erhöhung des Organisationsgrads der Arbeitgeber
(3) Maßnahmen zur Erhöhung des Organisationsgrads der Arbeitnehmer
dd) Zwischenergebnis
b) Förderung von Lohnverhandlungen (Art. 4 Abs. 1 lit. b MiLoRL)
aa) Unionsrechtliche Vorgaben: Information und sonstige Verhandlungsförderung
bb) Gewährleistung von Informationszugang und Verhandlungsförderung durch das deutsche Recht
(1) Informationszugang
(2) Verhandlungsförderung
cc) Sonstige Maßnahmen
dd) Zwischenergebnis
c) Diskriminierungsschutz und Schutz der Tarifparteien untereinander (Art. 4 Abs. 1 lit. c, d MiLoRL)
d) Fazit
4. Ergänzende Förderung tariflicher Lohnsetzung bei unzureichender Tarifabdeckung (Art. 4 Abs. 2 MiLoRL)
a) Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 2 MiLoRL: Mangelnde Tarifabdeckung
b) Rechtsfolgen
V. Fazit


I. Einleitung

Mit der am 19.10.2022 verabschiedeten Mindestlohn-Richtlinie (MiLoRL), die bis zum 15.11.2024 ins nationale Recht umzusetzen ist (Art. 17 Abs. 1 MiLoRL), will die EU einen Rahmen zur „Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union“ schaffen (Art. 1 Abs. 1 MiLoRL). Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, in denen Lohngestaltung ausschließlich tarifvertraglich geregelt ist, zwar nicht zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns (Art. 1 Abs. 4 lit. a MiLoRL), legt aber Parameter für die Ermittlung der Höhe eines etwaig bestehenden gesetzlichen Mindestlohns fest. Zugleich soll sie Tarifverhandlungen fördern (Art. 1 Abs. 1 MiLoRL, ErwGr 18).

Durch auskömmliche Löhne will die EU einer Gefährdung des sozialen Zusammenhalts vorbeugen, zu „fairen“ Arbeitsbedingungen im Sinne der „Europäischen Säule sozialer Rechte“ beitragen, Geschlechtergerechtigkeit vorantreiben und den Binnenmarkt stützen (ErwGr 5 ff.). Ziel ist darüber hinaus auch die Verringerung von Lohnunterschieden innerhalb der EU (ErwGr 7): Die Bedeutung des Arbeitsentgelts als Faktor im innergemeinschaftlichen Wettbewerb soll eingedämmt werden.

Die Vereinbarkeit der Mindestlohn-RL mit dem europäischen Primärrecht und die Folgen der Richtlinie für das deutsche Recht untersucht der folgende Beitrag.

II. Überblick über die Mindestlohn-RL
Die MiLoRL verfolgt ihre eingangs genannten Ziele in zwei Säulen: Einerseits sollen die gesetzlichen Mindestlöhne der Mitgliedstaaten durch Vorgaben zur Bemessung der Lohnhöhe angeglichen werden (Art. 5 MiLoRL), andererseits will die Richtlinie die tarifliche Lohnsetzung fördern (Art. 4 MiLoRL).

1. Rahmen für die Bemessung der Mindestlohnhöhe
Art. 1 Abs. 4 lit. a MiLoRL hält fest, dass die Richtlinie nicht so ausgelegt werden darf, als verpflichte sie einen Mitgliedstaat, in dem die Lohngestaltung ausschließlich tarifvertraglich geregelt ist, zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Für die derzeit 22 Mitgliedstaaten, die bereits einen gesetzlichen Mindestlohn vorsehen, stellt Art. 5 MiLoRL jedoch Kriterien auf, nach denen die Lohnhöhe bemessen und aktualisiert werden muss. Die Norm nimmt sich damit der rechtlich wie politisch wohl umstrittensten Frage des Mindestlohns an: Wie hoch der gesetzliche Mindestlohn ausfallen muss, damit er „angemessen“ ist, hängt von seiner Zielsetzung ab. 6 Im Unterschied zum marktwirtschaftlichen Ansatz eines an Produktivität orientierten Lohns, der den „wahren“ Wert der Arbeitsleistung, ihren „Nutzen“ spiegelt, blendet der Mindestlohn die individuelle Produktivität aus. Der Gedanke lässt sich auf philosophische und theologische Grundlagen stützen. Schon im Weinberggleichnis (Matthäus 20, 1-16) gibt der Herr jedem Arbeiter dasselbe, das, was er zum Leben braucht, unabhängig davon, wie viel er erarbeitet hat. Neben diesem Gedanken der Angemessenheit i.S.d. Existenzsicherung gibt es aber auch den Ansatz eines „living wage“. Dieser ist in seiner Höhe danach zu bemessen, was der Arbeitnehmer und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen für eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben benötigen. In beide Richtungen lässt sich etwa die WRV interpretieren mit dem in Art. 151 WRV enthaltenen Programmsatz, die Ordnung des Wirtschaftslebens müsse dem Ziel der „Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ entsprechen.

Das Arbeitsvölkerrecht – das von Deutschland nicht ratifizierte ILO-Übereinkommen Nr. 131 über Mindestlöhne – klammert die Frage, welcher Zielsetzung genau die Lohnhöhe entsprechen muss, bewusst aus (Art. 4 ILO Nr. 131), und auch das deutsche MiLoG verhält sich nicht ausdrücklich dazu.

Die MiLoRL neigt, ohne ausdrücklich Stellung zu beziehen, eher dem „living wage“ zu und orientiert den Mindestlohn an der persönlichen Lebenssituation des Arbeitnehmers (Art. 1 MiLoRL). Die MiLoRL will seine Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessern, und dies ungeachtet seiner Produktivität. Es geht zwar nicht um uneingeschränkte soziale Teilhabe des Arbeitnehmers, aber jedenfalls um die Sicherung eines „angemessenen Lebensstandard(s)“ (ErwGr 28) und damit um mehr als um bloße Existenzsicherung: Nach den von Art. 5 Abs. 2 lit. a)-d) MiLoRL vorgegebenen Mindestkriterien ist die Kaufkraft unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten zwingend zu berücksichtigen. Auch das allgemeine Lohnniveau, die Wachstumsrate der Löhne und die Lohnverteilung knüpfen an soziale Teilhabe an. Die Kriterien „Produktivitätsniveau“ und „Produktionsentwicklung“ dagegen sind zwar nach der Richtlinie nicht individuell auf den Arbeitnehmer bezogen zu ermitteln, fragen mithin nicht nach dem Wert der Arbeitsleistung gerade des betroffenen Arbeitnehmers, bringen aber jedenfalls allgemein marktwirtschaftlich-unternehmerische Erwägungen in die Lohnermittlung hinein.

Die Gewichtung der Kriterien im Einzelnen bleibt Sache der Mitgliedstaaten (Art. 5 Abs. 1 S. 5 MiLoRL), die hierbei „unter Berücksichtigung ihrer nationalen sozioökonomischen Bedingungen“ vorgehen sollen. Deutliches Gewicht bei der Bemessung dürften die Werte von 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns erlangen. Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 5 Abs. 4 MiLoRL zwar nicht verpflichtet, sie als Referenzwerte für die Mindestlohnsetzung festzulegen (vgl. den Wortlaut: „können“). Es handelt sich hier aber um die von der EU gewünschten Zielwerte, die der Mindestlohn erreichen soll, wie auch ErwGr 28 noch einmal zum Ausdruck bringt.

Der Mindestlohn ist nach Art. 5 Abs. 5 MiLoRL „regelmäßig und rechtzeitig“ zu aktualisieren. Seine Festlegung und Aktualisierung erfolgt unter Beteiligung der Sozialpartner (Art. 7 MiLoRL). Abweichungen und Ausnahmen von der Mindestlohngesetzgebung müssen „die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit“ einhalten (Art. 6 Abs. 1 MiLoRL). Der Zugang der Arbeitnehmer zum Mindestlohn und seine Durchsetzung sind durch behördliche Kontrollmaßnahmen abzusichern (Art. 8 MiLoRL).

2. Förderung der tariflichen Lohnfestlegung
Zweite Säule der MiLoRL ist die Förderung der tariflichen Lohnfindung. Der Richtliniengeber geht davon aus, dass in den letzten Jahrzehnten traditionelle Tarifverhandlungsstrukturen durch „strukturelle Verschiebungen in der Wirtschaft“ (in Richtung Dienstleistungssektor) und durch den Rückgang des Organisationsgrads der Arbeitnehmer „untergraben“ worden seien, wobei der Rückgang des Organisationsgrads „insbesondere infolge gewerkschaftsfeindlicher Praktiken und der Zunahme prekärer und atypischer Beschäftigungsformen“ eingetreten sein soll (ErwGr 16). Daher verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, um die „tarifvertragliche Abdeckung zu erhöhen und die Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu erleichtern“ (Art. 4 MiLoRL). So sollen etwa die „Kapazitäten“ der Sozialpartner, Tarifverhandlungen zu führen, gefördert werden (Art. 4 Abs. 1 lit. a MiLoRL).

Ziel der Richtlinie ist eine „Tarifabdeckung“ von 80 % (s. Art. 4 Abs. 2 MiLoRL). Liegt die Quote in einem Mitgliedstaat darunter, hat der Mitgliedstaat zusätzlich zu den Maßnahmen nach Art. 4 Abs. 1 MiLoRL einen „Rahmen“ festzulegen, „der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft“. Die Rahmensetzung erfolgt entweder durch Erlass eines Gesetzes (nach Anhörung der Sozialpartner) oder durch ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.05.2024 09:30
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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