Otto Schmidt Verlag

Aktuell in der ZFA

Tarifanwendung bei der öffentlichen Auftragsvergabe (Caspers, ZFA 2024, 225)

Der Beitrag schildert die neueren Entwicklungen zur Tariftreuepflicht bei der öffentlichen Auftragsvergabe. Im Zentrum steht die Frage nach deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht. Zudem wird die Vereinbarkeit von Tariftreueverpflichtungen mit der Koalitionsfreiheit diskutiert.

I. Einleitung
II. Arten der Tariftreue und Entwicklung des Tariftreuerechts

1. Von der Tariftreue zum Vergabemindestlohn
2. ... und zurück zur Tariftreue
a) Mindeststundenentgelt und Tariftreue nach dem Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetz (BerlAVG) v. 22.4.2020
b) Tariftreuepflicht und Tariftreueerklärung nach dem Saarländischen Tariftreue- und Fairer-Lohn-Gesetz (STFLG) v. 8.12.2021 (Verordnungsmodell)
c) Der Arbeitsentwurf eines Bundestariftreuegesetzes – BTTG
d) Sonderregelungen im Bereich der öffentlichen Personenverkehrsdienste und im Pflegesektor
III. Unionsrechtliche Anforderungen
1. Vereinbarkeit mit der Vergaberichtlinie
2. Vereinbarkeit mit der Entsenderichtlinie
a) Konstitutive Tariftreue
b) Verordnungsmodell
3. Vereinbarkeit mit der Dienstleistungsfreiheit
4. Nichts Neues durch Art. 9 der Mindestlohnrichtlinie
IV. Vereinbarkeit mit der Koalitionsfreiheit
V. Fazit


I. Einleitung

Rund 15 Jahre nach dem spektakulären Rüffert-Urteil, in dem der EuGH dem Tariftreueverlangen bei öffentlicher Auftragsvergabe enge rechtliche Grenzen gesetzt hat, steht die Tariftreue im Vergaberecht wieder im Fokus der politischen und rechtlichen Debatten. Es geht um die Frage, ob Unternehmen, die sich um Aufträge der öffentlichen Hand bewerben, von dieser zur Anwendung der am Ort der Leistung geltenden Tarifverträge verpflichtet werden können, obwohl sie an diese nicht tarifgebunden sind. Einige Bundesländer haben in den letzten Jahren neue Tariftreuegesetze mit unterschiedlichen Regelungsmechanismen geschaffen. Zudem hat sich die Ampelkoalition im Koalitionsvertrag v. 7.12.2021 vorgenommen, zur Stärkung der Tarifbindung die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrags der jeweiligen Branche zu binden. Im Mai 2023 ist der (unvollständige) Arbeitsentwurf eines Referentenentwurfs zum sog. Bundestariftreuegesetz kursiert.

Anlass für einige Landesgesetzgeber und jetzt möglicherweise auch für den Bundesgesetzgeber, einen neuen Anlauf in Sachen Tariftreue bei der öffentlichen Auftragsvergabe zu wagen, sind die im Jahr 2018 geänderte Entsenderichtlinie sowie die Fortentwicklung der Rechtsprechung des EuGH. Wie der EuGH – noch zur alten Fassung der Entsenderichtlinie – im Rüffert-Urteil auf Vorlage des OLG Celle entschieden hat, gibt die Entsenderichtlinie den Grad an Schutz vor, den der Aufnahmemitgliedstaat in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen zugunsten der von diesen in sein Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmer abzuverlangen berechtigt ist. Dies dient dem Schutz vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung des von Art. 56 AEUV garantierten freien Dienstleistungsverkehrs, in dessen Licht der EuGH die Entsenderichtlinie auslegt. Wie der EuGH im Rüffert-Urteil ausgeführt hat, zielt die Entsenderichtlinie auf die Verwirklichung des freien Dienstleistungsverkehrs ab, der eine der vom EG‑Vertrag (heute AEUV) garantierten Grundfreiheiten ist.

Zugrunde lag ein Fall, in dem ein polnisches Bauunternehmen als Nachunternehmer für Rohbauarbeiten auf einer Baustelle zur Errichtung einer Justizvollzugsanstalt im Landkreis Göttingen (Niedersachsen) eingesetzt worden war. Nach dem EuGH war das damalige niedersächsische Vergabegesetz, nach welchem öffentliche Auftraggeber Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen vergeben durften, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichteten, ihren Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt (entsprechend einer Liste repräsentativer Tarifverträge) zu bezahlen, nicht unionsrechtskonform, weil die Verpflichtung zur Zahlung des im Baugewerbe-Tarifvertrag bestimmten Lohns über die Verpflichtung zur Zahlung des nach dem AEntG erstreckten Branchenmindestlohns nach dem TV-Mindestlohn für das Baugewerbe hinausging. Nach Auffassung des EuGH führt die Entsenderichtlinie zu einer Voll- und nicht nur zu einer Mindestharmonisierung, was freilich nicht unumstritten ist. Die nach dem AEntG als Umsetzung der Entsenderichtlinie erstreckten Arbeitsbedingungen werden insoweit als Höchstbedingungen aufgefasst.

Ob die geänderte Entsenderichtlinie und dem Rüffert-Urteil nachfolgende Entscheidungen des EuGH, insbesondere sein Urteil in der Rechtssache RegioPost, den Regelungsspielraum für eine zwingende Tarifanwendung bei der öffentlichen Auftragsvergabe erweitert haben, ist umstritten. Zudem stehen trotz der Grundsatzentscheidung des BVerfG v. 11.7.2006, in welcher dieses in der Tariftreuebestimmung des damaligen Berliner Vergabegesetzes weder einen Verstoß gegen die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes noch eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 12 Abs. 1 GG gesehen hatte, erneut verfassungsrechtliche Einwände gegen die Verpflichtung zur Tarifanwendung bei der öffentlichen Auftragsvergabe im Raum. Der Verpflichtung zur Tarifanwendung bei öffentlicher Auftragsvergabe und ihrer unionsrechtlichen Zulässigkeit möchte ich mich im Folgenden schwerpunktmäßig widmen, wobei zwischen unterschiedlichen Arten der Tariftreue zu unterscheiden ist. Zum Schluss gehe ich auch noch auf einen Ausschnitt der Vereinbarkeit von Tariftreueverpflichtungen mit der Koalitionsfreiheit ein, während die Rechtfertigung des mit ihnen verbundenen Eingriffs in die Berufsfreiheit in diesem Vortrag nicht aufgerollt werden soll.

II. Arten der Tariftreue und Entwicklung des Tariftreuerechts

1. Von der Tariftreue zum Vergabemindestlohn

Die Verpflichtung des Auftragnehmers, während der Durchführung eines von der öffentlichen Hand vergebenen Auftrags (bestimmte) Tarifverträge anzuwenden, kann auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhen und geht auch in der Sache unterschiedlich weit. Eine Selbstverständlichkeit folgt auf den ersten Blick aus § 128 Abs. 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), wenn es dort heißt, dass Unternehmen bei der Ausführung des öffentlichen Auftrags alle für sie geltenden rechtlichen Verpflichtungen einzuhalten haben. Ausdrücklich wird in der Vorschrift u.a. genannt, dass die Unternehmen den Arbeitnehmern wenigstens diejenigen Mindestarbeitsbedingungen einschließlich des Mindestentgelts zu gewähren haben, die nach dem Mindestlohngesetz, einem nach dem Tarifvertragsgesetz mit den Wirkungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag oder einer nach § 7, § 7a oder § 11 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes oder einer nach § 3a des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes erlassenen Rechtsverordnung für die betreffende Leistung verbindlich vorgegeben werden. Ähnliche Bestimmungen finden sich in mehreren Landesvergabegesetzen. Tarif- und arbeitsvertragsrechtlich sind derartige Bestimmungen unbedenklich, weil vom Auftragnehmer etwas verlangt wird, wozu er ohnehin verpflichtet ist. Verlangt wird von diesem lediglich, dass er sich rechts- und gesetzestreu verhält. Insoweit handelt es sich bei diesen Bestimmungen aus arbeitsrechtlicher Sicht um einen lediglich deklaratorischen Verweis. Über das reine Arbeitsrecht gehen sie gleichwohl hinaus, weil bei Nichtbeachtung der geltenden arbeitsrechtlichen Verpflichtungen auch vergaberechtliche Sanktionen, insbesondere der Ausschluss von der Teilnahme an Vergabeverfahren, drohen.

Davon zu unterscheiden sind vergaberechtliche Bestimmungen, die unabhängig von einer bestehenden Tarifbindung die Anwendung bestimmter Tarifverträge während der Auftragsdurchführung einfordern. Durch derart „konstitutive“ Tariftreueforderungen werden Unternehmen wegen des Vergabedrucks zur vorübergehenden Anwendung eines – meist repräsentativen – Tarifvertrags angehalten, an den sie häufig nicht tarifgebunden sind und für dessen Einhaltung durch Nachunternehmer sie ebenfalls einstehen sollen. Derartige Regelungen fanden und finden sich typischerweise dort, wo eine Branche von der Marktmacht öffentlicher Auftraggeber abhängig ist. Betroffen waren früher vor allem Bauleistungen gegenüber der öffentlichen Hand und Leistungen im öffentlichen Personennahverkehr. Als Beispiel lässt sich der im Rüffert-Urteil einschlägige § 3 Abs. 1 Satz 1 des damaligen Niedersächsischen Landesvergabegesetzes (LVergabeG) nennen, nach welchem sich Unternehmen, die sich um einen Bauauftrag bewarben, bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten mussten, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei der Ausführung der Leistung mindestens das tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zum tarifvertraglich vorgesehenen Zeitpunkt zu zahlen. Der öffentliche Auftraggeber bestimmte in der Bekanntmachung der Ausschreibung und in den Vergabeunterlagen den oder die einschlägigen Tarifverträge (§ 3 Abs. 2 LVergabeG).

Weil der EuGH – ich habe es bereits gesagt – im Rüffert-Urteil entschied, dass die Entsenderichtlinie, die im Lichte der Dienstleistungsfreiheit (heute Art. 56 AEUV) auszulegen ist, es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, die Erbringung einer Dienstleistung in seinem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen einzuhalten sind, die über die zwingenden Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz der Richtlinie hinausgehen, haben mehrere Bundesländer als Reparaturmaßnahme sog. „vergabespezifische Mindestlöhne“ durch Gesetz eingeführt, die den bei der öffentlichen Auftragsvergabe vom Auftragnehmer einzuhaltenden Mindestlohn im Einzelnen beziffern. Die Vereinbarkeit dieser Regelungen mit der Europäischen Dienstleistungsfreiheit war umstritten. Insbesondere war unter Bezugnahme auf die Rüffert-Entscheidung ebenfalls geltend gemacht worden, dass der von einem Mitgliedstaat als erforderlich angesehene Arbeitnehmerschutz grundsätzlich nur dann eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen könne, wenn er umfassend Geltung besitze und nicht davon abhängig sei, ob der Arbeitnehmer in Ausführung eines öffentlichen Auftrags oder eines privaten Auftrags tätig werde. Diese Sichtweise hat der EuGH für den vergabespezifischen Mindestlohn im RegioPost-Urteil v. 17.11.2015 unter Verweis auf die damals einschlägige Vergaberichtlinie aus dem Jahr 2004 verworfen. Er hält vergabespezifische Mindestlöhne für zulässig, wenn das Vergabegesetz den Mindestlohn selbst festlegt. Dies gilt nach der Entscheidung jedenfalls dann, wenn weder das AEntG noch eine andere nationale Regelung einen niedrigeren Mindestlohn für die entsprechende Branche vorsieht, worauf noch zurückzukommen ist.

2. ... und zurück zur Tariftreue
Mit der Änderung der Entsenderichtlinie im Jahr 2018 hat der Unionsgesetzgeber den Katalog der auf entsandte Arbeitnehmer erstreckbaren Kernarbeitsbedingungen bekanntlich ausgeweitet. Insbesondere wurde in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c) der Richtlinie der Begriff der Mindestlohnsätze durch den Begriff der Entlohnung ersetzt. Damit wurde die Richtlinie an eine Auslegung der Vorgängerbestimmung durch den EuGH angepasst, der in seinem Urteil in der Rechtssache Sähköalojen v. 12.2.2015 bereits die Auffassung vertreten hatte, dass die Berechnung des Mindeststundenlohns auf der Grundlage der Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen, wie sie nach den maßgeblichen Tarifverträgen des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehen ist, zulässig sei, sofern die Berechnung und die Einteilung nach zwingenden und transparenten Vorschriften vorgenommen werde. Weiter sieht Art. 3 Abs. 1a Unterabs. 1 der geänderten Entsenderichtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten in den Fällen, in denen die Entsendung mehr als zwölf Monate beträgt, den entsandten Arbeitnehmern zusätzlich zu den Bedingungen des Art. 3 Abs. 1 der Entsenderichtlinie sämtliche anwendbaren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Bestimmungsstaat durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften und/oder durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder durch solche Tarifverträge, die anderweitig nach Art. 3 Abs. 8 der Entsenderichtlinie Anwendung finden, festgelegt sind. Nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 1a Unterabs. 3 der Entsenderichtlinie kann der Zwölfmonatszeitraum auf 18 Monate verlängert werden. Schließlich wurde Art. 3 Abs. 8 der Richtlinie verändert, der die Modalitäten, nach denen die in Tarifverträgen geregelten Kernarbeitsbedingungen verbindlich gemacht werden können, regelt. In der Folge haben mehrere Bundesländer einen neuen Anlauf unternommen, die Unternehmen bei öffentlichen Aufträgen im Rahmen der Vergabeverfahren zur Tarifanwendung zu verpflichten. Die gesetzlichen Bestimmungen greifen typischerweise für Bau‑, Liefer- und Dienstleistungen, wenn der geschätzte Auftragswert bestimmte Schwellenwerte übersteigt. Als Beispiele unterschiedlicher Regelungsmodelle zur Tariftreue seien im Folgenden genannt:

a) Mindeststundenentgelt und Tariftreue nach dem Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetz (BerlAVG) v. 22.4.2020
§ 9 Abs. 1 des Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetzes (BerlAVG) v. 22.4.2020 sieht neben einer deklaratorischen Bestimmung und einem Vergabemindestlohn von nunmehr 13 € brutto je Zeitstunde vor, dass öffentliche Aufträge an Auftragnehmer nur vergeben werden, wenn diese sich...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 25.06.2024 15:15
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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