Otto Schmidt Verlag

EuGH v. 3.4.2025 - C-807/23

Rechtsanwaltsanwärter in Österreich: Teil der Ausbildung auch bei Rechtsanwalt in Deutschland möglich?

Die in Österreich geltende Regelung, nach der ein Teil der Ausbildungszeit eines Rechtsanwaltsanwärters verpflichtend bei einem Anwalt mit Sitz in Österreich zu absolvieren ist, demnach die Absolvierung dieser praktischen Verwendung bei einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt ausgeschlossen ist, ist nicht mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbar.

Der Sachverhalt:
Um in Österreich Rechtsanwalt werden zu können, muss man (nach der österreichischen Rechtsanwaltsordnung, kurz: RAO, in der Fassung vom 20.4.2023) eine fünfjährige praktische Verwendung absolvieren. Mindestens drei Jahre und sieben Monate davon müssen in Österreich absolviert werden, wovon wiederum mindestens drei Jahre bei einem Rechtsanwalt zu absolvieren sind. Die Rechtsanwaltskammer Wien lehnte es aufgrund dieser Regelung ab, die klagende Juristin in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter einzutragen und ihr eine kleine Legitimationsurkunde über eine begrenzte Vertretungsbefugnis auszustellen, weil sie ihre praktische Verwendung nicht bei einem Rechtsanwalt in Österreich absolviere. Sie war nämlich bei der Kanzlei Jones Day in Frankfurt a.M. angestellt, wo sie von einem österreichischen Rechtsanwalt und Partner dieser Kanzlei ausgebildet wurde.

Auf Nachfrage hatte die Klägerin der Rechtsanwaltskammer Wien mitgeteilt, dass sich ihre Tätigkeit ausschließlich auf österreichisches Recht beziehe. Ihr Ausbildungsanwalt, der ihr gegenüber bzgl. das österreichische Recht betreffende Erledigungen alleine weisungsberechtigt sei, berate österreichische und ausländische Mandanten der Kanzlei Jones Day im österreichischen Recht und vertrete diese vor österreichischen Behörden sowie Gerichten. Im Zuge ihrer Ausbildung habe sie zur Vertretung der Mandanten ihres Ausbildungsanwalts somit mehrmals wöchentlich Kontakt mit österreichischen Behörden und Gerichten. Die Klägerin focht die Ablehnung seitens der Rechtsanwaltskammer Wien vor dem österreichischen Obersten Gerichtshof an.

Das österreichische Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Es möchte wissen, ob die streitige Regelung, wonach ein Teil der praktischen Ausbildungszeit eines Rechtsanwaltsanwärters zwingend im Inland zu verbringen ist, gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstößt (obwohl ein anderer Teil der Ausbildungszeit im Ausland verbracht werden dürfe).

Die Gründe:
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) steht einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, nach der ein bestimmter Teil einer praktischen Verwendung, die für den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf erforderlich ist und während derer der Rechtsanwaltsanwärter über eine gewisse Vertretungsbefugnis vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats verfügt, bei einem in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt zu absolvieren ist und nach der die Absolvierung dieser praktischen Verwendung bei einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt ausgeschlossen ist. Und zwar auch dann ausgeschlossen ist, wenn dieser Rechtsanwalt in ersterem Mitgliedstaat zugelassen ist und die im Rahmen der praktischen Verwendung ausgeübten Tätigkeiten das Recht des ersteren Mitgliedstaats betreffen, so dass es den betroffenen Juristen somit auch nicht erlaubt ist, diesen Teil der praktischen Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat unter der Bedingung zu absolvieren, dass sie den zuständigen nationalen Behörden gegenüber nachweisen, dass dieser Teil der Verwendung, so wie er absolviert wird, ihnen eine Ausbildung und Erfahrung bieten kann, die mit jener Ausbildung und Erfahrung vergleichbar ist, die eine praktische Verwendung bei einem in ersterem Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt bietet.

Eine Regelung eines Mitgliedstaats wie die hier in Rede stehende, nach der ein bestimmter Teil der für den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf erforderlichen praktischen Verwendung bei einem in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt absolviert werden muss, stellt eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit dar. Sie ist geeignet, die Ausübung dieser Freizügigkeit zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, indem sie für diese Unionsbürger die Möglichkeit, ihre berufliche Tätigkeit als Rechtsanwaltsanwärter bei einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt auszuüben, beschränkt.

Die streitige Voraussetzung soll sicherstellen, dass der Rechtsanwalt ausreichende Erfahrung in der Praxis des nationalen Rechts und mit Kontakten zu den österreichischen Behörden und Gerichten erworben hat, um gewährleisten zu können, dass die mit der streitigen Regelung verfolgten Ziele des Schutzes der Empfänger juristischer Dienstleistungen und einer geordneten Rechtspflege verwirklicht werden. Sie geht jedoch über das hinaus, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist.

Die Absolvierung der praktischen Verwendung durch Juristen bei einem in Österreich eingetragenen, aber in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt zusammen mit dem Erfordernis, den zuständigen nationalen Behörden gegenüber nachzuweisen, dass diese Verwendung vergleichbare Erfahrungen ermöglicht wie eine praktische Verwendung bei einem Rechtsanwalt in Österreich, wäre nämlich eine Maßnahme, die die Verwirklichung der Ziele, die mit einer Regelung wie der hier in Rede stehenden verfolgt werden, ebenfalls ermöglichen würde. Und diese erscheint weniger einschneidend als die durch die fragliche Regelung verursachte Beschränkung.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | AEUV
Art. 45 Freizügigkeit der Arbeitnehmer
Tillmanns in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 11. Aufl. 2024
11. Aufl./Lfg. 04.2024

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 03.04.2025 16:17
Quelle: EuGH online

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