Bestehen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung einer Beschwerde, die ein Arbeitnehmer gegenüber dem Betriebsrat erhoben und dieser als berechtigt erachtet hat, kann der Betriebsrat nach § 85 Abs. 2 S. 1 BetrVG die Einigungsstelle anrufen. Der Spruch der Einigungsstelle ersetzt nach § 85 Abs. 2 S. 2 BetrVG die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. § 85 Abs. 2 S. 3 BetrVG lautet wörtlich: „Dies gilt nicht, soweit Gegenstand der Beschwerde ein Rechtsanspruch ist.“ Fraglich ist, wann (k)ein Rechtsanspruch Gegenstand einer Beschwerde ist und was (nicht) gilt, wenn Gegenstand der Beschwerde möglicherweise ein Rechtsanspruch ist.
Vorab: die Vorschrift nimmt die Unterscheidung zwischen Rechtsstreitigkeiten, die grundsätzlich durch die Arbeitsgerichte zu entscheiden sind, und Regelungsstreitigkeiten, für die die Einigungsstelle zuständig ist, auf. Während es jedoch Mitbestimmungstatbestände gibt, denen immanent ist, dass sie nicht nur Regelungs-, sondern auch Rechtsfragen aufwerfen, die von den Betriebsparteien und der Einigungsstelle zu behandeln sind (BAG vom 28.3.2017 – 1 ABR 25/15 zu § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG, ArbRB 2017, 272 [Grimm]), soll in § 85 Abs. 2 BetrVG zwischen beiden Fragen unterschieden werden (Grundlegend BAG vom 28.6.1984 – 6 ABR 5/83, BAGE 46, 228).
Bezieht man das Direktionsrecht, den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, die betriebliche Übung sowie Schutz- (§ 618 BGB) und wechselseitige Rücksichtspflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) ein, setzt sich schnell die Erkenntnis durch, dass viele Fragen, die Anlass zu Beschwerden sein können, rechtlich zu beantworten sind. Teilweise wird daher die Ansicht vertreten, dass Beschwerdegegenstände, die zwar möglicherweise Nebenpflichten des Arbeitgebers berühren und damit eventuell auch Rechtsansprüche des Arbeitnehmers begründen, bei denen es aber bislang an der notwendigen Konkretisierung und Absicherung durch die Rechtsprechung fehlt, durch die Einigungsstelle verbindlich entschieden werden sollen. Als Begründung hierfür wird angeführt, dass anderenfalls das durch die Einigungsstelle durchsetzbare Beschwerderecht des Arbeitnehmers weitgehend leerlaufen würde. Deshalb sei die Einigungsstelle schon dann zu bilden, wenn zweifelhaft oder nicht ganz sicher sei, dass der Beschwerdegrund einen Rechtsanspruch betreffe. Danach soll nur dann, wenn offensichtlich ein Rechtsanspruch besteht, die Einigungsstelle unzuständig sein (ErfK/Kania, 21. Aufl. 2021, § 85 BetrVG Rn. 5).
Dieser Ansicht hat das LAG Köln eine klare Absage erteilt und dagegengehalten, dass § 85 Abs. 2 S. 3 BetrVG streng auszulegen ist, es sei denn, man wolle Rechtsdurchsetzungsansprüche der Arbeitsvertragsparteien beschneiden, die Gefahr einer Durchbrechung der betrieblichen Mitbestimmungsordnung hinnehmen und entgegen dem Willen des Gesetzgebers Rechtsfragen in Regelungsfragen umdeuten. Bei einer justiziablen Angelegenheit scheidet die Anrufung der Einigungsstelle aus (LAG Köln vom 6.8.2021 – 9 TaBV 26/21; so bereits BAG vom 28.6.1984 – 6 ABR 5/83, BAGE 46, 228).
Wie weit reicht die Bedeutung des ersten Halbsatzes von § 85 Abs. 2 S. 3 BetrVG („Dies gilt nicht, …“)? Bezieht sie sich nur auf den vorherigen Satz oder auf beide vorstehenden Sätze? § 85 Abs. 2 S. 3 BetrV schließt nicht nur die Verbindlichkeit des Spruchs der Einigungsstelle (Satz 2) aus, wenn mit der Beschwerde des Arbeitnehmers ein Rechtsanspruch geltend gemacht wurde, sondern führt bereits zur offensichtlichen Unzuständigkeit der Einigungsstelle (Satz 1). Auch wenn die Einigungsstelle ihre Zuständigkeit grundsätzlich selbst zu prüfen hat, ist es im Verfahren nach § 85 Abs. 2 BetrVG nicht ihre Aufgabe, als Gutachter darüber zu befinden, ob die Voraussetzungen für einen Rechtsanspruch des Arbeitnehmers gegeben oder offenkundig zu verneinen sind (so bereits BAG vom 28.6.1984 – 6 ABR 5/83, BAGE 46, 228; ebenso LAG Hamm vom 3.5.2016 – 7 TaBV 29/16, ArbRB online; Hessisches LAG vom 3.4.2007 – 4 TaBV 39/07, ArbRB online; GK-BetrVG/Franzen, 11. Aufl. 2018, § 85 Rn. 14).
RA FAArbR Axel Groeger, Bonn
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