Nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts verfallen Urlaubsansprüche der Arbeitnehmer zum Jahresende bzw. zum 31.03. des Folgejahres nur dann, wenn der Arbeitgeber die Arbeitnehmer zuvor aufgefordert hat, ihren Urlaub zu nehmen und ihnen klar und rechtzeitig mitgeteilt hat, dass der Urlaub andernfalls verfällt. Das BAG hat nun klargestellt, dass dies grundsätzlich auch für den Schwerbehindertenzusatzurlaub gem. § 208 SGB IX gilt (BAG, Urteil vom 30.11.2021, Az. 9 AZR 143/21). Oftmals haben Arbeitgeber von der Schwerbehinderung eines Arbeitnehmers aber keine Kenntnis.
Der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen unterliegt nicht den Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie 88/2003/EG. Der deutsche Gesetzgeber ist daher grundsätzlich frei darin, Urlaubsansprüche, die über den Mindesturlaub gem. Art. 7 Abs. 1 der RL 88/2003/EG hinausgehen, zu regeln. Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG teilt der gesetzliche Zusatzurlaub jedoch das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs (Grundsatz der „urlaubsrechtlichen Akzessorietät“). Deshalb überträgt das BAG die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten auch auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen.
Arbeitgeber müssen schwerbehinderten Arbeitnehmern daher auch
- mitteilen, wie viele Arbeitstage Zusatzurlaub ihnen im Kalenderjahr zustehen,
- sie auffordern, diesen Zusatzurlaub so rechtzeitig zu beantra-gen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres genommen werden kann, und
- sie über die Konsequenzen belehren, die eintreten, wenn sie den Urlaub nicht entsprechend der Aufforderung beantragen.
Dies lässt sich ohne Weiteres in bereits vorhandene Muster-Schreiben/E-Mails einarbeiten.
Die Mitwirkungsobliegenheit entfällt allerdings dann, wenn es dem Arbeitgeber unmöglich war, den Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, seinen Zusatzurlaub zu realisieren. Dies soll dann der Fall sein, wenn der Arbeitgeber (i) keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers hat und (ii) diese auch nicht offenkundig ist. Wann eine Schwerbehinderung „offenkundig“ in diesem Sinne ist, führt das BAG nicht weiter aus. Mit dem Duden dürfte davon auszugehen sein, dass die Schwerbehinderung „für jeden ersichtlich“ sein muss, was z.B. bei Menschen, die an den Rollstuhl gebunden sind, der Fall ist. Ein restriktives Verständnis ist auch deshalb geboten, weil Arbeitgeber andernfalls Gefahr laufen würden, nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer in ihrem Persönlichkeitsrecht zu verletzen, wenn sie diese fälschlicherweise über ihre Rechte als schwerbehinderte Menschen aufklären würden.
Das BAG stellt klar, dass Arbeitgeber weder vorsorglich auf einen etwaigen Zusatzurlaub hinweisen noch erfragen müssen, ob eine Schwerbehinderung vorliegt. Sie dürften vielmehr erwarten, dass Arbeitnehmer ihnen die Schwerbehinderteneigenschaft verrieten, wenn sie den Zusatzurlaub wahrnehmen wollten. Unterließen Arbeitnehmer die Mitteilung, könnten sie den Zusatzurlaub nicht wahrnehmen, auch wenn dieser gem. § 13 BUrlG unverzichtbar sei.
Beruft sich ein Arbeitgeber darauf, von der Schwerbehinderteneigenschaft eines Arbeitnehmers keine Kenntnis gehabt zu haben, muss der Arbeitgeber dies darlegen und beweisen. Allerdings kommen ihm hier die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast zugute:
- Der Arbeitgeber genügt seiner Darlegungslast zunächst durch die Behauptung, ihm sei die Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten wegen seiner Unkenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers nicht möglich gewesen.
- Der Arbeitnehmer muss dann im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast unter Benennung von Beweismitteln konkret vortragen, wann und wie er den Arbeitgeber in Kenntnis gesetzt hat oder aufgrund welcher Umstände auf die Kenntnis des Arbeitgebers geschlossen werden kann.
- Genügt der Arbeitnehmer seiner sekundären Darlegungslast, liegt der Ball wieder beim Arbeitgeber, der seine Unkenntnis darlegen und ggf. auch beweisen Gelingt ihm dies nicht oder bleibt die Beweisaufnahme unergiebig („non liquet“), unterliegt der Arbeitgeber.
In der vom BAG entschiedenen Konstellation hatte der Kläger Abgeltung für Zusatzurlaubstage der Jahre 2016 bis 2018 verlangt. Das BAG hat die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das nun unter Berücksichtigung der vorstehend beschriebenen Darlegungs- und Beweislastverteilung wird klären müssen, ob der Arbeitgeber Kenntnis von der Schwerbehinderung des Klägers hatte oder hätte haben müssen. Nach Auffassung des BAG war der Kläger seiner sekundären Darlegungslast bislang nicht hinreichend nachgekommen. Insbesondere hatte er nicht konkret dargelegt, wann und in welcher Weise er wen auf Seiten der Beklagten auf seine Schwerbehinderung hingewiesen hatte.
Die Entscheidung des BAG hat – auch wenn sie wenig überraschend ist – bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren. Arbeitgeber sollten sie zum Anlass nehmen, zu überprüfen, ob den Rechtsfolgen, die an eine Schwerbehinderteneigenschaft geknüpft sind, insgesamt hinreichend Beachtung geschenkt wird. Insbesondere der Sonderkündigungsschutz schwerbehinderter Menschen gem. §§ 168 ff. SGB IX ist von großer praktischer Relevanz.
Arbeitgeber, die „auf Nummer sicher“ gehen wollen, können von ihrem Fragerecht im laufenden Arbeitsverhältnis Gebrauch machen. Nach Auffassung des BAG ist die Frage nach der Schwerbehinderung nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses zulässig (Urteil vom 16.02.2012 – 6 AZR 553/10). Darauf weist der 9. Senat in der Entscheidung vom 30. November 2021 noch einmal ausdrücklich hin.