Es gibt aktuell nicht wenige Mitarbeiter und Unternehmen, die das von ihnen bislang gemeinsam geschätzte Vertrauensarbeitszeitmodell „retten“ möchten.
Anbei ein paar Gedanken, wie und in welchem Umfang das gelingen könnte:
Die beiden Ausgangsfragen: One size fits all? Abwarten oder doch Anpacken?
Ob sich für solche Modelle auch künftig individuelle rechtliche Spielräume bieten werden, dürfte weiterhin vor allem von einem Aspekt abhängen:
Inwieweit Unternehmen und ihre Mitarbeiter gemeinsam in der Lage sind, zeitnah für Ihre jeweils individuelle Arbeitssituation im Unternehmen kreative Alternativen zu einer bloßen Vollaufzeichnung anzubieten.
Wenn diese Alternativen auch objektiv ähnlich geeignet sind, die von den Gerichten bislang – sicher nicht vollkommen zu Unrecht – ausgemachten Defizite auf der Ebene des Gesundheitsschutzes beiseite zu schieben, werden weder die Gerichte noch der Gesetzgeber unter fachlichen wie rechtlichen Aspekten auf eine Vollaufzeichnung bestehen (können).
„Pauschal“ wird sich diese Frage nach meiner Einschätzung allerdings auf absehbare Zeit nicht ohne weitere Entscheidungen des EuGH beantworten lassen. Egal wie schnell die Entscheidungsgründe des 1. Senats verfügbar sein werden oder wie schnell ggf. nunmehr auch der Gesetzgeber handeln dürfte.
Sinnvolle „Rettungsmaßnahmen“ lassen sich aus meiner Sicht daher in jedem Unternehmen bei Bedarf bereits jetzt ergreifen.
Wo man sehr vereinzelt das Heft des Handelns bereits im Nachgang zur CCOO-Entscheidung in die Hand genommen hat, hat es sich zudem regelmäßig als sehr zielführend herausgestellt, dass „HR“ und „Legal“ eine gemeinsame Strategie entwickeln und ihre jeweiligen Ansätze möglichst frühzeitig miteinander abstimmen.
Ob der „Paukenschlag“ zum Auftakt dafür wirklich in der letzten Woche oder nicht doch bereits im Mai 2019 zu vernehmen war, kann letztlich dahinstehen. Gleichwohl gibt es auch dazu ein paar grundsätzliche Aspekte vorab. Musik erleichtert ja bei sperrigen Themen durchaus den Einstieg. Wem das zu langatmig oder  zu „blogmäßig“ ist, springt von hier gleich ein paar Absätze weiter zur Ãœberschrift „2.Satz“ direkt ins Thema.
Ouvertüre: Der „Rechtssprechungspaukenschlag“ ein Sender- oder Empfängerproblem?
Ich bin -zumindest als Leser- grundsätzlich ein großer Fan von „BAG-Paukenschlag“-Posts, weil sie nämlich jedem die Gelegenheit geben sich zu fragen, ob man bei dem jeweils dort gennannten Thema gut aufgestellt ist oder nicht. Mehr lässt sich daraus aber regelmäßig auch nicht ableiten.
Denn denselben „Paukenschlag“ kann man situationsbedingt auf ganz unterschiedliche Weise wahrnehmen. Am Ende haben sie fast immer viel mehr mit der Wahrnehmung und dem Umfeld des „Zuhörers“, also dem Verfasser des Posts, als mit dem eigentlichen „Werk“, also der „Entscheidung“ des BAG zu tun.
Insoweit gibt es durchaus Parallelen zur „Mutter aller Paukenschläge“, Joseph Haydns 94. Symphonie „mit dem Paukenschlag“.
Ist man gerade noch rechtzeitig kurz vor Konzertbeginn eingetroffen und etwas erschöpft dann leider doch im 1. Satz kurz eingenickt, wird man durch den „Paukenschlag“ im 2.Satz aufgeschreckt und so jäh aus der gerade erst müheselig erkämpften Komfortzone gerissen. Findet keiner super.
Ist man rechtzeitig am Platz, mit genug Zeit, vorher sogar noch das Programmheft zu lesen, fiebert man dem dort sicher bereits erwähnten „Höhepunkt“ in entspannter Erwartungshaltung bewusst entgegen. Erschreckt hat einen dann nichts.
1. Satz: Wie man grds. mit „Paukenschlägen“ umgehen sollte
Ob der Anzahl von immerhin zehn Fachsenaten am BAG, einem recht produktiven EuGH, zahlreicher sonstiger Herausforderungen und einem „Leben neben dem Arbeitsrecht“ sollte man demütig feststellen, dass die 1. Variante im Berufsalltag eines Arbeitsrechtlers durchaus der Regelfall ist.
Der Weg in die Komfortzone steht aber trotzdem meist bereit. Irgendwo findet sich meist dann doch noch ein „Programmheft“, mit dem sich arbeiten lässt. Denn in den letzten Jahren lässt sich dem BAG kaum das Bemühen absprechen, in einem sicher nicht ganz einfachen Spagat Impulse des EuGH aufzunehmen, ohne dabei die notwendige Kontinuität zur eigenen Rechtsprechung aus dem Blick zu verlieren.
Der Lösungsweg und sein Zeitplan stellt sich dann meist wie folgt dar:
• Ein kurzer Blick auf das „Gesamtwerk“ statt auf den „Paukenschlag im 2. Satz“, in der Regel also vor allen eine Kontextanalyse der Entscheidung einschließlich eines Blicks auf die Rechtsprechung des EuGH
• Ein kurzer erster Actionplan, bei dem HR und Juristen zusammen überlegen, was zu tun ist, (bzw. meist ggf. bereits zu tun gewesen wäre) und vor allem wie man sich dabei gegenseitig im Team unterstützen kann.
• Denn eigentlich gibt es immer bereits etwas unmittelbar operativ zu optimieren, wenn die Richtung, in die es unabwendbar gehen wird, bereits dem Grunde nach feststeht.
• Und wenn das Thema aus Unternehmenssicht von erheblicher strategischer Bedeutung ist, sollte es immer so schnell wie möglich angepackt werden. Das schließt nämlich nicht aus, Anpassungen vorzunehmen, um auf weitere Entwicklungen zu reagieren. Das ist aber in der Regel deutlich entspannter, als dann erst anzufangen.
2. Satz: Das bereits vorhandene „Programmheft“ zur „Vertrauensarbeitszeit“
Es gibt – trotz aller Vorbehalte – nach meiner Einschätzung mittlerweile einige relativ gesicherte Erkenntnisse im Kontext der „Vertrauensarbeitszeit“, die sich aus der CCOO-Entscheidung des EuGH und der daran anknüpfenden Entscheidungen des 1. und 5. Senats des BAG aus 2022 ableiten lassen.
I. Was mittlerweile eigentlich keiner mehr ernsthaft in Frage stellen kann:
1. den folgenden Ausgangspunkt:
Das Streitthema „Vertrauensarbeitszeit vs. Vollaufzeichnung“ hat in allen Unternehmen grundsätzlich zwei Komponenten:
• „Vergütung“ mit dem Streitpunkt: Gibt es ohne Zeitkontrolle zu wenig Geld für zu viel Arbeit?
und
• „Gesundheitsschutz“ mit dem Streitpunkt: Macht Arbeit ohne Zeitkontrolle krank?
Beide Themen sind unabhängig voneinander zu bewerten.
2. die folgenden Details zum Thema Vergütung:
• Zum Thema „Vergütung“ gibt es bereits seit Jahren eine Vielzahl von Entscheidungen, die bezüglich des benannten „Streitpunkts“ in der Regel drei unterschiedliche Mitarbeitergruppen im Blick haben (Tarifmitarbeiter, Mitarbeiter knapp über der höchsten Tarifgruppe, Mitarbeiter mit einem Verdienst jenseits aller Beitragsbemessungsgrenzen)
• Beim Thema „Vergütung“ kommt es dort – grob vereinfacht – bislang auf die konkrete Vertragsgestaltung, vor allem aber auch auf die rechtzeitige Kommunikation etwaiger Ãœberstunden durch den Mitarbeiter und den anschließenden Umgang damit durch das Unternehmen an. Bei Mitarbeitern mit einem Verdienst jenseits aller Beitragsbemessungsgrenzen ist das Thema zudem bislang regelmäßig absolut vernachlässigenswert. Die aktuellen Änderungen im NachweisG sollte man aber trotzdem im Blick behalten.
• Einen aktuellen Anlass für die Modifikation dieser Grundsätze sieht die BAG beim Thema „Vergütung“ letztlich für keinen dieser drei Fälle, und zwar weder angesichts der CCOO-Entscheidung des EuGH noch aufgrund der Grundrechte-Charta. Das zeigt insbesondere der Sachverhallt der (bislang weitestgehend unbeachteten) Entscheidung des 5. Senats aus der vorletzten Woche 5 AZR 507/21 vom 7.9.2022. (40 Stunden fest im Vertrag, Verdienst unter EUR 4000, keine Aufzeichnungen wegen abgesprochener „Vertrauensarbeitszeit“). Die Klage wurde trotzdem abgewiesen.
• Die Karten könnten aber auch beim Thema „Vergütung“ zum Teil neu gemischt werden, wenn es unter dem Aspekt des Themas „Gesundheit“ zu einer tatsächlichen Vollaufzeichnung kommt. Denn schon heute misst die Rechtsprechung dem Umstand Bedeutung zu, dass Arbeitszeiten dem Unternehmen bekannt sind und es keine Gegenmaßnahmen ergreift.
3. die folgenden Details zum Thema Gesundheit:
• Das Thema „Gesundheit“ ist anders als das Thema „Vergütung“ europarechtlich determiniert, und zwar mit Art. 31 Abs. 2 Grundrechte-Charta auch auf der sogenannten „Primärebene“. Es hat damit eine ganz besondere Wirkmächtigkeit, weil es quasi rechtlich „über allem“ thront und – angesichts einiger Andeutungen in der Rechtsprechung des EuGH – wohl auch unmittelbare Drittwirkung entfaltet.
• Der 1. Senat des BAG hat genau diesen Aspekt in seiner aktuellen Pressemitteilung noch einmal aufgenommen und daraus zudem einstweilen über § 3 Abs.2 Nr. 1 ArbSchG auch eine (zumindest allgemeine) Pflicht zur Erfassung abgeleitet.
• Da die Themen „Gesundheit“ und „Vergütung“ isoliert zu betrachten sind, ist es bei dieser Betrachtung zunächst erst einmal vollkommen egal, was der Mitarbeiter verdient. Allein mit diesem Argument wird man die „Vertrauensarbeitszeit“ im Einzelfall daher nicht „retten“ können.
• Argumente, die im Rahmen des Streitpunkts „Gesundheit“ trotzdem Berücksichtigung finden sollen, müssen daher entweder „fachlich“ passen.
• Oder sie müssen sich „rechtlich“ auf einer Ebene bewegen, die sich mit dem Thema „Gesundheit“ und Art 31 Abs. 2 GRC auf Augenhöhe bewegt, also insbesondere ebenfalls einen Anknüpfungspunkt in der Grundrechte-Charta haben.
• Mit Art. 7, 8 und 15 GRC für den Mitarbeiter und Art. 16 GRC für das Unternehmen stehen hier durchaus auch rechtliche Anknüpfungspunkte zur Verfügung. die sodann in eine Abwägung (Art. 52 GRC) einfließen könnten.
II. Was aktuell noch vollkommen ungeklärt ist:
• Sowohl die exakte Reichweite der vorbezeichneten Grundrechte, als auch ihr Verhältnis zueinander ist weitestgehend ungeklärt. Gleiches gilt für viele weitere Aspekte der Grundrechtsdogmatik im Zusammenspiel von Rechten, Freiheiten und Grundsätzen, die wir ja so nicht 1:1 aus dem Grundgesetz und dessen weitestgehend geklärter Dogmatik kennen.
• Der EuGH hätte – in Abwägung mit der Vorgabe nach Art 31 Abs. 2 GRC – dabei zudem mehrere Fragestellungen zu klären:
Zum einen, welche Gestaltungsspielräume dem nationalen Gesetzgeber verblieben, wenn dieser zusammen mit den maßgeblichen Akteuren (Unternehmen und Mitarbeitergruppen) in einzelnen Konstellationen eine Vollaufzeichnung übereinstimmend für entbehrlich erachtet und dies auch fachlich begründen kann.
Zum anderen, welchen Grundrechtschutz die maßgeblichen Akteure (Unternehmen und Mitarbeitergruppen), die in einzelnen Konstellationen eine Vollaufzeichnung übereinstimmend für entbehrlich halten und dies auch fachlich begründen können, beim EuGH einfordern können, wenn der nationale Gesetzgeber trotzdem von Ihnen – wie von allen anderen – die Vollaufzeichnung fordert.
• Dabei ist zudem berücksichtigen, dass der EuGH – nach seinem nunmehr bereits seit Jahrzehnten nach außen getragenem Selbstverständnis – selbst nicht davon ausgeht, dass die Antwort auf diese Fragen bereits jetzt feststeht. Sondern, dass dieses Ergebnis stattdessen vielmehr im „konstruktiven“ Dialog erst über ein oder mehrere Vorabentscheidungsverfahren zu entwickeln ist. Deutsche Juristen sind davon in der Regel kein Fans. Es hilft aber nichts.  Das war bereits beim Thema „Outsourcing von Reinigungsarbeiten“ in den 1990er Jahren ausweislich „Christel Schmidt“ und „Ayse Süzen“ so. Und es korrespondiert auch mit den Ausführungen des aktuellen Präsidenten des EuGH, Prof. Koen Lenaerts beim Europarechtlichen Symposium des BAG im Mai dieses Jahres in Erfurt.
III. Das Programmheft „in a nutshell“
Wenn man all das mit wenigen Worten zusammenfassen möchte:
Wenn man das Thema „Vertrauensarbeitszeit“ nur unter dem Aspekt „Vergütung“ im Blick hatte, hat sich in den vergangenen Jahren wenig bis gar nichts geändert. „Paukenschläge“ gab es somit rückbetrachtend ehrlicherweise keine.
Völlig anders sieht es dort aus, wo das Thema „Vertrauensarbeitszeit“ vor allem zur DNA des Unternehmenskultur gehört. Zwar gab es mit § 16 Abs. 2 ArbZG auch bisher schon eine Vorgabe, die es zu beachten galt. Im Nachgang zu den Entscheidungen des EuGH und des BAG sehen sich Unternehmen ohne Aufzeichnung der Arbeitszeit aber nunmehr grundsätzlich dem Vorwurf ausgesetzt, so den Gesundheitsschutz ihrer Mitarbeiter zu vernachlässigen.
Genau hier sollte ein Unternehmen daher bereits jetzt ansetzen, wenn es diesem abstrakten Vorwurf für sein Unternehmen im konkreten Einzelfall argumentativ entgegentreten möchte. Und zwar auch dann, wenn aktuell realistischerweise nicht im Ansatz die Gefahr besteht, dass deswegen bereits morgen die Aufsichtsbehörde vor der Tür steht und insoweit eine Maßnahme nach § 22 ArbSchG anordnet.
3. Satz: Der „Actionplan“
I. Die Rolle von HR
Insoweit obliegt es zunächst „HR“ in einem ersten Schritt
• zu „orten“ wo „Vertrauensarbeitszeit“ aktuell praktiziert wird,
• ob sie dort aus Sicht beider Beteiligter erhalten werden soll,
• welche inhaltlichen Aspekte aus Sicht beider Beteiligter dafür sprechen,
• welche Historie das Ganze dort insgesamt unter dem Aspekt „Gesundheit“ aufweist (u.a. Fehlzeiten, Langzeiterkrankungen etc.).
II. Die Rolle der Juristen
Wenn so ein erstes Bild entstanden ist, sollte das Ganze unter Berücksichtigung des im ArbSchG skizzierten Rahmens mit juristischer Unterstützung weiter in Form gebracht werden.
Dabei wird es insbesondere darum gehen, welche alternativen Maßnahmen insoweit in Betracht kommen könnten, um den grundsätzlich für notwendig erachteten Gesundheitsschutz auf ähnliche Weise sicherzustellen. Wie das im Einzelnen aussehen kann, variiert durchaus von Unternehmen zu Unternehmen und würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
III. Aspekte der Mitbestimmung
Soweit ein Betriebsrat besteht, können je nach Mitarbeitergruppe im Einzelfall bereits im Rahmen dieser Abstimmung Mitbestimmungsrechte ausgelöst werden, die es daher im Blick zu behalten gilt. Insoweit ist das Mitbestimmungsthema aus meiner Sicht daher auch nicht vollkommen vom Tisch.
IV. Das „Endprodukt“
Wenn auf diesem Wege alle Akteure gemeinsam ein auf das Unternehmen abgestimmtes „Rettungspaket“ schnüren, dürfte das pauschale Verbot von Vertrauensarbeitszeit angesichts der Grundrechtspositionen der daran beteiligten Akteure mit Blick auf den EuGH zumindest kein Selbstgänger sein.
Finale: Die Antwort auf  die beiden Frage „One size fits all?“ und „Abwarten oder Anpacken?“
Ob sich dieser Aufwand am Ende – noch dazu so frühzeitig – tatsächlich lohnen wird, lässt sich natürlich am Ende nicht vorhersehen. Wenn man allerdings Vertrauensarbeitszeit als Teil der DNA seines Unternehmens betrachtet, ist es eigentlich alternativlos, so früh wie möglich damit anzufangen und vor allem nichts unversucht zu lassen, diese DNA zu erhalten. Und eine DNA ist zudem bekanntlich stets individuell.
Insoweit eine guten Wochenstart…