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Reisezeiten einer Dienstreise mit der Bahn sind Arbeitszeit – Ein Urteil des VG Lüneburg

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Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht

Das VG Lüneburg hat in einem aktuellen Urteil vom 2.5.2023 ( 3 A 146/22) europarechtliche Vorgaben umgesetzt. Es hat festgestellt, dass Reisezeiten für eine Dienstreise mit der Bahn als Arbeitszeit im Sinne des ArbZG gelten.

Nachfolgend finden Sie die wichtigsten Punkte sowie praktische Hinweise.

Der Fall: Reisezeit als Arbeitszeit?

Arbeitgeberin war ein Speditionsunternehmen, das Nutzfahrzeuge überführte. Dabei ging sie wie folgt vor: Der Arbeitnehmer sollte mit der Bahn zum Abholort fahren, das Fahrzeug dort übernehmen und anschließend selbst zum Zielort fahren. Von dort aus sollte er wiederum mit der Bahn zurückreisen. Das zuständige Gewerbeaufsichtsamt hatte der Arbeitgeberin aufgegeben, die zulässigen Höchstarbeitszeiten einzuhalten. Die Bahnreisezeiten seien als Arbeitszeit zu werten. Hiergegen klagte die Arbeitgeberin.

Warum die Arbeitgeberin die Dienstreise nicht als Reisezeit sah

Die Arbeitgeberin argumentierte wie folgt: Der Arbeitnehmer könne seine Zeit während der Bahnfahrt frei gestalten und erbringe somit nur ein „Freizeitopfer“. Auch eine dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufende Belastung nach der seinerzeit vom BAG entwickelten. „Beanspruchungstheorie“ sei nicht gegeben.

Das VG Lüneburg bewertete die Reisezeit als Arbeitszeit

Das VG Lüneburg folgte dieser Argumentation nicht und berief sich auf europarechtliche Grundlagen. Entscheidend sei, ob der Arbeitnehmer der Arbeitgeberin zur Verfügung stehe und seine Tätigkeit ausübe bzw. ihm zugewiesene Aufgaben wahrnehme. Die Reisezeit mit der Bahn zähle daher als Arbeitszeit.

Die Dienstreise sei Teil der Leistungserbringung und beschränkte den Arbeitnehmer, über seine Zeit selbst zu bestimmen. Die Dauer der Bahnreise hänge allein vom Überführungsort des Fahrzeugs ab und sei somit der Arbeitgeberin zuzurechnen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Bewertung der Entscheidung: Zutreffende Einordnung der Reisezeit als Arbeitszeit

Ich halte die Entscheidung für zutreffend. Im Kern geht es um die Frage, wann Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie 2003/88/EG vorliegt.

Nach neueren europarechtlichen Vorgaben sind die unionsrechtlichen Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zwecks der Richtlinie zu bestimmen. Denn nur eine solche autonome Auslegung könne sicherstellen, dass die Richtlinie ihre volle Wirksamkeit entfalte und einheitlich angewendet werde (EuGH, Urt. v. 9.3.2021 – C-580/19, und C-344/19). Weiter gibt der EuGH zur Abgrenzung von Arbeitszeit und Ruhezeit Folgendes vor: Es komme entscheidend darauf an, welche Möglichkeiten für Arbeitnehmende bestehen, ihren persönlichen oder sozialen Interessen nachzugehen. Zu unterscheiden hiervon seien Zeiten, in denen Arbeitnehmende lediglich erreichbar sein müssen (EuGH, Urt. v. 9.3.2021, C-580/19, undC-344/19). Auch eine Entscheidung des EFTA-Gerichtshof bestätigt diese Sichtweise. Die Reisezeit eines Arbeitnehmers, der anweisungsgemäß an einen anderen als seinen üblichen Arbeitsort reist, um dort Aufgaben zu erledigen, gelte als Arbeitszeit (EFTA-Gerichtshof v. 15.7.2021 – E-11/20 –Eyjólfur Orri Sverrisson ./.Island).

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist die Reisezeit für die Dienstreise im vorliegenden Fall als Arbeitszeit zu werten. Die Dienstreise erfolgte auf Anweisung der Arbeitgeberin. Ebenso war die Reise erforderlich, um die vertragsgemäßen Aufgaben zu erledigen. Zudem ist es auf einer Zugfahrt nur sehr eingeschränkt möglich, seinen persönlichen oder sozialen Interessen nachzugehen; dies folgt alleine schon aus den räumlichen Gegebenheiten.

Praxishinweise

Nicht nur das Thema Arbeitszeiterfassung, sondern auch die Einhaltung der Höchstarbeits- und Ruhezeiten ist für beide Arbeitsvertragsparteien von Bedeutung.

… für die Arbeitnehmerseite

  • Ich rate dazu, die Arbeitszeiten und Reisezeiten sorgfältig zu dokumentieren. Dies umfasst neben den genauen Zeiten der Dienstreise auch den Grund der Reise und die konkrete Reiseanweisung.
  • Wird eine Dienstreise unter Verletzung des ArbZG angewiesen, empfehle ich, dieser ggf. rechtswidrigen Anweisung vorerst zu folgen. Zum einen besteht noch keine Rechtssicherheit zum Thema „Reisezeit als Arbeitszeit“. Zum anderen ist es in der Regel ratsam, auch unwirksamen Weisungen nachzukommen, bis deren Unwirksamkeit gerichtlich festgestellt ist. Nur so kann vermieden werden, dass sich im Nachhinein herausstellt, dass es doch pflichtwidrig war, weisungswidrig zu handeln.

…  für die Arbeitgeberseite

  • Die Arbeitszeitregelungen und Anweisungen sind daraufhin zu überprüfen, ob entsprechende Ruhe- und Arbeitszeiten eingehalten werden. Nur so können unangenehme Verfahren wie das vorliegende und etwaige Bußgelder vermieden werden.
  • Auch für Arbeitgebende ist es empfehlenswert, die genauen Reisezeiten, deren Grund und die konkrete Reiseanweisung zu dokumentieren.
  • Es ist zudem ratsam, Arbeitnehmenden die notwendige Unterstützung und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit diese die Reisezeit effizient nutzen können. Sofern möglich, können Arbeitsnehmende angewiesen werden, auf der Zugfahrt Arbeitsaufgaben zu erledigen, und hierfür kann ihnen ggf. ein Laptop zur Verfügung gestellt werden.

Weitere Hinweise:

Eine ausführliche Besprechung der Frage, wann Reisezeit als Arbeitszeit zu werten ist, finden Sie in dem Blog von Dr. Oberthür.

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