Derzeit wird gefordert, den gesetzlichen Mindestlohn auf 14 € zu erhöhen, obwohl soeben erst die Mindestlohnkommission tätig geworden ist und beschlossen hat, den gesetzlichen Mindestlohn in 2 Stufen zu erhöhen, und zwar zum 1.1.2024 auf 12,41 € brutto und zum 1.1.2025 auf 12,82 € brutto je Zeitstunde.
Begründet wird die dennoch vorgeschlagene Erhöhung auf 14 € von der SPD und ver.di mit europarechtlichen Vorgaben aus der jüngst verabschiedeten europäischen Mindestlohnrichtlinie. Richtig ist, dass diese Richtlinie nach ihrem Art. 17 Abs. 1 bis zum 15. November 2024 in nationales Recht umgesetzt werden muss, sofern dies erforderlich ist.
Der Begriff des Mindestlohns iSd. Richtlinie
Interessant ist insoweit bereits, dass nach der Richtlinie unter „Mindestlohn“ nicht nur der gesetzliche Mindestlohn verstanden wird. Nach Art. 3 Nr. 1 MindestlohnRL ist Mindestlohn das gesetzlich oder tarifvertraglich festgelegte Mindestentgelt, das ein Arbeitgeber – auch im öffentlichen Sektor – dem Arbeitnehmer für die in einem bestimmten Zeitraum geleistete Arbeit zu zahlen hat.
Fehlender Zwang zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns
Mitgliedsländer, in denen die Lohngestaltung ausschließlich tarifvertraglich geregelt ist, sind nach Art. 1 Abs. 4 Buchst. a MindestlohnRL nicht verpflichtet, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen.
Fehlender rechtlicher Zwang zur Erhöhung eines gesetzlichen Mindestlohns durch den Gesetzgeber
Hat ein Mitgliedstaat einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt, ist er nicht verpflichtet, diesen aufgrund der MindestlohnRL zu erhöhen. Ausdrücklich bestimmt Art. 1 Abs. 3 MindestlohnRL, dass die Richtlinie nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Höhe von Mindestlöhnen sowie die Entscheidung der Mitgliedstaaten berührt, gesetzliche Mindestlöhne festzulegen.
Ergänzend führt Erwägungsgrund 19 zur Richtlinie aus, dass diese Richtlinie weder darauf abzielt, die Höhe der Mindestlöhne in der Union zu vereinheitlichen, noch einen einheitlichen Mechanismus für die Festsetzung von Mindestlöhnen zu schaffen. Sie greift demnach nicht in die Freiheit der Mitgliedstaaten ein, gesetzliche Mindestlöhne festzulegen. Außerdem wird ausdrücklich betont, dass mit der Richtlinie kein Lohnniveau festgelegt wird, da dies in die entsprechende Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.
Diese Regelung in der MindestlohnRL und die Ausführungen in dem Erwägungsgrund sind konsequent. Art. 153 Abs. 5 des Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) überlässt die Gestaltung des Arbeitsentgelts allein den Mitgliedstaaten.
Fehlender rechtlicher Zwang zur Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns durch die Mindestlohnkommission
Die Mindestlohnkommission kann und darf vom Gesetzgeber nicht erneut übergangen werden, um den politisch gewünschten höheren Mindestlohn zu erreichen.
Die Mindestlohnkommission hat nach § 9 Abs. 2 MiLoG im Rahmen einer Gesamtabwägung zu prüfen, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden. Ausdrücklich gibt das Gesetz in § 9 Abs. 2 Satz 2 MiLoG ihr auf, sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung zu orientieren. Die Höhe der Inflation ist damit kein Orientierungsmaßstab. Die Kommission schlägt dann nach einem entsprechenden Beschluss nach § 1 Abs. 2 Satz 2 MiLoG der Bundesregierung eine Anpassung des Mindestlohns vor. Eine solche Anpassung kann nicht nur eine Erhöhung des Mindestlohns, sondern auch dessen Beibehaltung oder Absenkung beinhalten
Es liegt dann nach § 11 Abs. 1 MiLoG an der Bundesregierung, die vorgeschlagene Anpassung des Mindestlohns durch Rechtsverordnung für alle Arbeitgeber sowie Arbeitnehmer verbindlich zu machen. Sie kann sich über den Vorschlag nicht hinwegsetzen. Sie hat nur die Möglichkeit, dem Vorschlag zu folgen oder nichts zu unternehmen. Eine Umsetzungspflicht besteht nicht. Dann bleibt es bei dem bisherigen gesetzlichen Mindestlohn. Durch diesen Ablauf ist einerseits gewährleistet, dass Tarifverträge weiter Orientierungsmaßstab für die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns sind, und andererseits eine paritätisch besetzte Kommission der Tarifpartner die alleinige Entscheidung über die Anpassung verbleibt. Dies ist selbst dann gewährleistet, wenn die Umsetzung des Vorschlags durch die Bundesregierung nicht erfolgt, da dann der bisherige von der Mindestlohnkommission bisher festgesetzte Betrag beibehalten wird.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine Erhöhung des Mindestlohns an der Mindestlohnkommission „vorbei“
Unter Umgehung der Mindestlohnkommission hat der Gesetzgeber zum 1.10.2022 den gesetzlichen Mindestlohn in § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG n.F. auf 12,00 € brutto je Arbeitsstunde erhöht. Hierdurch erfolgte ein Eingriff in die verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie. Dieser Eingriff war nicht gerechtfertigt, so dass § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG n.F. verfassungswidrig war. Das BVerfG hätte nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG die Vorschrift für nichtig erklären müssen. Allerdings ist seinerzeit keine Verfassungsbeschwerde erhoben worden. Würde nun die Erhöhung auf 14 € erfolgen, ohne dass dies von der Mindestlohnkommission so geschlossen wird, wäre folglich erneut ein Verfassungsverstoß gegeben.
Bedeutung der Tarifverträge aufgrund des tarifvertraglichen Mindestlohn
Die MindestlohnRL und die dazu ergangenen Erwägungsgründe zeigen, welche hohe Bedeutung auch die EU Tarifverträgen beimisst. Sie sind es, die Mindestarbeitsbedingungen und damit auch Mindestlöhne für die unter sie fallenden Arbeitgeber und Arbeitnehmer regeln. Die Tarifvertragsparteien sind es, die aufgrund der Erfahrung in der entsprechenden Branche allein in der Lage sind, deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu beurteilen und darauf aufbauend die richtige Entgeltstruktur zu schaffen. Diese Festlegung der tarifvertragliche Arbeitsbedingungen aufgrund der ihnen zustehenden Tarifautonomie wird durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützt. Diese Tarifautonomie wird – dies wird häufig übersehen – europarechtlich ebenfalls geschützt. Nach Art. 28 GRCh (Europäische Grundrechte-Charta) haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisation nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen. Überlegenswert ist damit, ob nicht eine Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 14 € an der Mindestlohnkommission vorbei sogar europarechtswidrig ist.
Europäische MindestlohnRL unwirksam?
Am Rande sei erwähnt, dass das Königreich Dänemark am 18.1.2023 Klage gegen das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union vor dem Gerichtshof der Europäischen Union erhoben hat. Mit dieser Klage begehrt Dänemark die Nichtigkeitserklärung der Richtlinie. Dänemark ist der Auffassung, dass die EU mit dem Erlass der Richtlinie den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung überschritten und somit ohne Kompetenz auf diesem Gebiet gehandelt hat. Die Richtlinie verstoße gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV, da Regelungen über Mindestlöhne generell nicht in die Zuständigkeit der Europäischen Union fallen.