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ArbRB-Blog

Was ist eigentlich „gleichwertige Arbeit“ im Vertriebsaußendienst?

avatar  Alexander Lentz

Eine aktuelle Bestandsaufnahme über Risiken und Nebenwirkungen der Entscheidungsbegründung des 8. Senats vom 16.02.2023 (8 AZR 450/21)

Dass die vorgenannte Entscheidung des 8. Senats über die unterschiedliche Vergütung von zwei Mitarbeitern im Vertriebsaußendienst weniger beim „gender pay gap“ sondern – unabhängig vom Geschlecht – eher beim „equal pay“ zu verorten sein könnte, ist hier bereits vor einigen Monaten unter Hinweis auf die Entscheidung des EuGH in Sachen TESCO skizziert worden. Die nunmehr vorliegende Begründung bestätigt die damalige erste Einschätzung.

Denn der 8. Senat hat diese Entscheidung des EuGH zum Ausgangspunkt seiner nunmehr vorliegenden Begründung gemacht. Dass man den konkreten Fall des BAG – angesichts des dort am Ende vereinbarten Vergütungssystems – im Ergebnis kaum anders entscheiden konnte, ist hier im Februar ebenfalls bereits dargestellt worden. Einige in der Begründung enthaltenen Bewertungen gehen jedoch weit über die dortigen Einzelfallaspekte hinaus.

Mit Blick auf meine eigenen Erfahrungen auf Arbeitgeber- wie auf Arbeitnehmerseite im „Vertriebs-Kontext“ haben mich nicht alle der dortigen Begründungsansätze überzeugt. Warum, habe ich mit Blick auf die unbestrittene Sonderrolle dieses Unternehmensbereichs kurz vorab skizziert. Dies und die sodann in den Blick genommenen Ausführungen in der Begründung bilden die Grundlage für eine erste Einschätzung, wie man mit der Entscheidung daher einstweilen umgehen sollte.

I. Vertrieb: eine offensichtlich besondere Art der Tätigkeit …

Selbstreflexion ist ein hohes Gut. Wenn man sich als Jurist anschickt, eine andere Tätigkeit zu bewerten hilft es oft, sich zunächst bewusst zu machen, wie die dort Tätigen sie eigentlich selbst bewerten. Und manchmal auch, wie die dortigen Akteure ggf. wiederum die Tätigkeit von Juristen bewerten.

Kurz vor der Unterschrift meines ersten Anstellungsvertrages bekam ich von einem Freund das Buch „So werde ich der Boss“ von Jeffrey J. Fox geschenkt. Offensichtlich auch inspiriert von mittlerweile ins Zwielicht geratener New Yorker Erfolgs-Ikonen der 1980er wie Gordon Gecko oder Donald Trump stellte der Autor dort schonungslos fest: Werden Sie in einem Unternehmen bloß nicht Jurist oder Personaler. Dort werden die Dinge lediglich verwaltet. Gehen Sie in den Vertrieb oder die Entwicklungsabteilung, wenn sie vorankommen wollen. Denn mit diesen Tätigkeiten wird für ein Unternehmen „Geld verdient“. „Boss werden“, was auch immer man darunter versteht, und ob man das überhaupt will, schloss sich mit einer arbeitsrechtlichen Spezialisierung also aus…

Auch wenn das Zeitalter der „existenzgefährdenden Compliance-Verstöße“ und des „War for talents“ diesen noch immer weit verbreiteten Ansatz sicher relativiert hat:

Der in der Aussage von Jeffrey J. Fox liegende Kern über die Bewertung von „Vertriebstätigkeiten“ ist zunächst als Ausgangspunkt wichtig dafür, wie üblicherweise Arbeitgeber -aber auch Mitarbeiter im Vertrieb selbst- in der Praxis ihre Tätigkeit bewerten und woran sie die „(Gleich)Wertigkeit“ ihrer Tätigkeit – auch im Vergleich zu anderen – vor allem zu messen scheinen.

II. Die Bewertung der (Gleich)wertigkeit von „Vertriebstätigkeiten“ im arbeitsrechtlichen Alltag

  1. Der typische Konflikt und seine Aufarbeitung vor dem Arbeitsgericht

Dass die bei der Festlegung der Vergütung in der Regel noch identische Annahme der „(Gleich)Wertigkeit“ von Leistung und Gegenleistung durch die Arbeitsvertragsparteien im Verlauf der Tätigkeit schnell diametral auseinanderfallen kann, ist ebenfalls eine Binsenweisheit.

Allen Arbeitsrechtlern begegnet dies regelmäßig in den insoweit einschlägigen Kündigungsschutzverfahren.  In diesen Fällen beschreibt das Unternehmen seinem rechtlichen Beistand den Sachverhalt vorab am Telefon stichwortartig fast immer mit dem Begriff „Low Performer“. Mitarbeitende beschreiben denselben Sachverhalt ihrem rechtlichen Beistand vorab am Telefon keinesfalls selten stichwortartig mit dem Begriff „Mobbing“. Das angerufene Arbeitsgericht bemüht sich dann zunächst um Aufklärung, wer von beiden Recht hat. Am Ende steht fast ausschließlich ein Vergleich. Offen ist immer, wie lange es dauert und wie teuer es wird. Hier kommt es je nach Fall und rechtlichem Beistand zu erheblichen Abweichungen.

  1. Der Anlass für die spätere abweichende Annahme der „(Gleich)Wertigkeit“

Der Anlass für die später voneinander abweichende Annahme der „(Gleich)Wertigkeit“ ist dabei immer ein und derselbe. Die „Vertriebsergebnisse“ entsprechen nicht der Erwartung, die von den Vertragsparteien zum Zeitpunkt des Vertragsschluss – zu Recht oder zu Unrecht – zugrunde gelegt wurden. Also das, worauf es offensichtlich (siehe 1.) beiden Akteuren für die Messung einer (Gleich)Wertigkeit anzukommen scheint.

Arbeitsvertraglich schuldet der Mitarbeiter aber trotz allem bekanntlich nicht den „Erfolg“, sondern allein eine „Tätigkeit mittler Art und Güte“.

Allen Unkenrufen zum Trotz kann man aber auch diese „mittlere Art und Güte“ durchaus an den Arbeitsergebnissen messen. Denn es gibt z.B. für die Dauer des Streichens einer neun Quadratmeter großen Wand üblicherweise genauso Erfahrungswerte wie für die Ergebnisse bei der Akkordarbeit in einem Produktionsbetrieb, denn die Kausalkette bis zum Ergebnis ist dort in der Regel für den Mitarbeiter beherrschbar.

Beim Vertrieb ist das anders.

Maßgeblich ist der Abschluss beim Kunden. Und dafür, ob und warum der am Ende „zeichnet“ und warum ggf. auch nicht, kann es bekanntlich ganz unterschiedliche Gründe geben.

  1. Rückschlüsse auf die Kriterien der Parteien für die „Bewertung“ einer Vertriebstätigkeit

Welche Gründe daher das nicht zufriedenstellende Vertriebsergebnis hat, beurteilen die Parteien eines solchen Rechtsstreits mit Blick auf denselben zurückliegenden Sachverhalt – wenig überraschend – regelmäßig unterschiedlich:

Für den Mitarbeiter liegt dies dann regelmäßig:

  • am Produkt,
  • an der schwierigen Marktsituation,
  • an der mangelnden Unterstützung durch „back office“ und Marketing,
  • insbesondere an den fest zugeordneten (schwierigen) Kunden / an dem fest zugeordnetem (schwierigem) Gebiet.

Für das Unternehmen liegt dies dann regelmäßig:

  • an mangelndem Einsatz, bspw. mit Blick auf die Anzahl der Kundentermine
  • insbesondere an den nunmehr identifizierten „mangelnden persönlichen Vertriebsskills“ des Mitarbeiters. Hinter diesem schillernden Begriff verbergen sich dann meist Konkretisierungen wie
    • kommt beim Kundenkreis nicht an,
    • trifft beim notwendigen „Nachfassen“ nicht den richtigen Ton,
    • wirkt nicht kundenorientiert,
    • kann nicht für das Produkt begeistern.

Man muss nicht über vertiefte betriebswirtschaftliche und psychologische Kenntnisse verfügen, dass bei einem ansonsten nahezu identischen objektiven „Vertriebssetting“ für die Mitarbeitenden in der Tat genau diese „insbesondere“-Aspekte wohl am Ende den Ausschlag geben, warum es bei dem einen Vertriebsmitarbeitenden regelmäßig zu einem Abschluss kommt, bei dem anderen aber nicht. In einem engen Markt mit meist mehreren vergleichbaren Produkten oder Dienstleistungen ist es oft allein das „Match“ zwischen Kunden und Vertrieblern, das über Wohl und Wehe eines Abschlusses entscheidet.

Mit dem in einem Beendigungsrechtsstreit rechtlich allein maßgeblichen Begriff der Tätigkeit „mittlerer Art und Güte“ lassen sich aber weder der „schwierige Kundenkreis“ noch die „persönlichen Vertriebsskills“ abbilden. Dafür mag es mit Blick auf oft seit Jahrzenten unverrückbare übergeordnete Prinzipien des deutschen Kündigungsschutzrechts durchaus nachvollziehbare sozialpolitische Gründe geben. Unabhängig davon lässt sich für jeden Praktiker daraus jedoch vor allem eine unbestreitbare Erkenntnis ableiten:

Das, was letztlich für die Bewertung „(Gleich)wertigkeit“ einer Tätigkeit im Vertriebmaßgeblich zu sein scheint, lässt sich allenfalls vage beschreiben und ist letztlich über das Vertriebsergebnis hinaus kaum bis gar nicht messbar. 

III. Die „Skill- und Potential“-Prognose als maßgebliches Kriterium beider Parteien bei der Festlegung der individuellen Vergütung für einen Vertriebsmitarbeiter

Angesichts dieser durchaus ernüchternden Erkenntnis stellt sich die Frage, wie die Parteien des Arbeitsvertrages dann überhaupt im Ansatz in der Lage sind, eine an der „(Gleich)Wertigkeit“ der Tätigkeit gemessene Vergütung zu bestimmen und dabei zwangsläufig – auch in Relation zu anderen Mitarbeitenden im Vertrieb – die individuelle Tätigkeit eines Kandidaten als „gleichwertig“ oder ggf. auch als „höherwertig“ zu bewerten.

Die Antwort ist – neben variablen Vergütungselementen – relativ banal.

Beide Vertragsparteien geben bezüglich der in der Vergütung zum Ausdruck kommenden „(Gleich)Wertigkeit“ lediglich eine Prognose auf bewusst unsicherer Tatsachengrundlage ab.

1. Grundlagen der jeweiligen Prognose von Mitarbeitenden und Arbeitgeber

a) die Prognose der Vertriebs-Mitarbeitenden

  • In nahezu allen Branchen werden erfahrene Vertriebsmitarbeitende ihren „Marktwert“ in etwa kennen.
  • Sie werden zudem in etwa abschätzen können, ob ihr individueller Marktzugang, insbesondere der zu bestimmten Kunden mit Blick auf die Produkte/Dienstleitungen ihrer potentiellen neuen Arbeitgeberin erfolgversprechend ist.
  • Sie werden auch angesichts der bisherigen „Vertriebserfolge“ wissen, ob sie über die objektiv nur schwer greifbaren „Vertriebsskills“ verfügen oder nicht.
  • Sie werden sich zudem darüber Gedanken machen, welchen Mehrwert sie jeweils individuell für den Arbeitgeber bieten.

Was andere Mitarbeitende dort verdienen, dürfte hingegen bei dieser jeweils individuellen Prognose ohne Belang sein. Allenfalls mag dies als „Gegencheck“ dazu dienen, ob sie ggf. ihren „Marktwert“ als zu gering eingeschätzt haben. Liegt das angebotene Gehalt – mit Verweis der Arbeitgeberin auf das anderer Mitarbeiter – hingegen unterhalb der eigenen „Prognose“, werden sie in der Regel ein anderes Angebot abwarten / annehmen.

 

b) die Prognose der Arbeitgeberin

Ähnlich analytisch wird die Arbeitgeberin ihr Angebot bestimmen.

Anders als die jeweiligen Kandidaten muss sie aber dabei durchaus das bisherige Gehaltsgefüge zunächst in den Blick nehmen und zum Ausgangspunkt ihrer Verhandlungen machen. Zum einen, weil es die betriebswirtschaftlich bestimmte Ausgangsbasis für ihre Gewinnziele ist. Zum anderen, weil allzu starke Abweichungen, wenn sie bekannt werden, zu Unruhe in der Belegschaft führen.

Sie wird sich daher nach ergänzender Hinzuziehung der zuvor skizzierten Argumente des Kandidaten/der Kandidatin im Vorstellungsgespräch über seine/ihre „Skills“ sehr genau überlegen, wie sie im Hinblick auf die Vergütung die „Wertigkeit“ der individuellen Vertriebstätigkeit einschätzt. Allein aufgrund dieser „Prognose“ wird sie am Ende ihr Angebot abgegeben.

2. Folgen einer fehlerhaften „Wertigkeits-Prognose“ 

Ob die jeweilige „Wertigkeits-Prognose“ am Ende zutraf, lässt sich erst im weiteren Verlauf des Anstellungsverhältnis messen.  Und nach allem zuvor Gesagten ist eine objektive „Messung der Wertigkeit“ objektiv auch dann nur anhand des Vertriebsergebnisses möglich.

 

a) Abweichende Vergütungshöhen als übliche Folge einer stets nur bedingt zutreffenden Prognose

Selten wird die ursprüngliche „Prognose“ exakt zutreffend gewesen sein. Es wird Mitarbeitende geben, deren am aktuellen Vertriebsergebnis festgemachte „(Gleich)Wertigkeit“ weit über der damaligen gemeinsamen „Prognose“ liegt. Und umgekehrt. An diesen Abweichungen einer „Lohngerechtigkeit“ würde im Ãœbrigen auch ein Model nichts ändern, in dem jeder Mitarbeitende von Beginn an exakt dieselbe Zahlung erhalten würde.

Letztlich sind diese allein aus dem Prognose-Charakter zwangsläufig immer folgenden Abweichungen auch kein Ergebnis „besseren Verhandelns“.

Denn selbst die „beste Verhandlerin der Welt“ kann nicht vermitteln, dass sie weiß, was die Zukunft bringt. Auch sie präsentiert bei Vertragsschluss immer nur eine Prognose, die die Arbeitgeberin dann so weit wie möglich an objektiven Kriterien zu überprüfen versuchen wird.

 

b) Notwendigkeit einer Korrektur?

Wenn Lohngerechtigkeit, insbesondere der Grundsatz von gleicher Bezahlung gleichwertiger Arbeit, eine so tragende Säule des Arbeitsrechts ist, stellt sich zwangsläufig die Frage, warum es offensichtlich trotzdem im Vertrieb bislang noch keinen Anspruch auf Korrektur einer bezüglich der „Wertigkeit“ fehlerhaften „Vergütungsprognose“ gab.

Auch hier ist die Antwort recht einfach.

Unabhängig von dem damit verbundenen Konfliktpotential für die Arbeitsvertragsparteien stellt sich zunächst die Frage, wie eine solche „Wertigkeits-Korrektur“ unabhängig vom rechtlich Möglichen in der Praxis überhaupt erfolgen sollte:

  • Eine kostenneutrale Umverteilung auf Basis der „(Gleich)Wertigkeit“ würde auf Arbeitnehmerseite individuell jeweils zu Kürzungen oder Erhöhungen führen und dort nachvollziehbarerweise auf wenig Begeisterung stoßen.
  • Eine proportionale Anpassung einiger Mitarbeitenden nach der dann jährlich aktuellen „(Gleich)Wertigkeit“ bei gleichzeitiger Bestandgarantie aller anderen Mitarbeitenden für die Vorjahrsvergütung würde zu einer kaum mehr kalkulierbaren jährlichen Lohnspirale nach oben führen.

Insoweit scheint der seit Jahrzehnten gültige Ansatz, daher bei „unzutreffender Prognose im Einzelfall“ weder eine Korrektur nach unten noch nach oben vorzunehmen, auch mit Blick auf die üblichen Schutzerwägungen des Arbeitsrechts der einzig richtige. Denn er schützt bei einer Fehlprognose im Ãœbrigen Mitarbeitende aktuell weitaus mehr als die Arbeitgeberin:

Schätzt die Arbeitgeberin im Rahmen der Prognose die Wertigkeit gemessen am weiteren Verlauf zu hoch ein, hat sie kein nachträgliches Korrektiv. Ergebnis dessen sind die oben unter II. beschriebenen Konflikte vor den Arbeitsgerichten …

Anders liegt es bei den Mitarbeitenden. Haben sie die „(Gleich)Wertigkeit“ zu ihren Lasten falsch eingeschätzt, besteht für sie zumindest die Option nachzuverhandeln und dabei auf einen ansonsten im Raum stehenden Jobwechsel zu verweisen, bzw. diesen ansonsten umzusetzen.

IV. Die Vergütungsanpassung im Rahmen der Entscheidung des 8. Senats vom 16.02.2023 und ihre Begründung

Mit Blick auf die Entscheidungsbegründung des 8. Senats vom 16.2.2023 (8 AZR 450/21, ArbRB 2023, 67 [Marquardt]) stellt sich die Frage, ob künftig – anders als bisher (siehe oben III. 2.b) – nunmehr vermehrt nachträgliche Korrekturen „nach oben“ drohen:

In der Entscheidung hatte das Gericht – anders als die Vorinstanzen – auf die Klage einer Mitarbeiterin im Vertriebsaußendienst deren Gehalt entsprechend angepasst. Anlass dafür war die Vergütung eines Mitarbeiters im Vertriebsaußendienst, der individuell ein höheres Gehalt als das zunächst Angebotene „verhandelt“ hatte.

 

1. Anpassung zum Schließen eines Gender Pay Gap oder eines Equal Pay Gap?

Da das Gericht seine Entscheidung bereits in der Presseerklärung vom Februar auf Art 157 AEUV gestützt hat, ist die Entscheidung in den Medien zunächst vor allem im Kontext des „Gender Pay Gap“ diskutiert worden.

Es ist hier bereits damals darauf hingewiesen wurden, dass aufgrund einer neueren Entscheidung des EuGH (Tesco Stores) vieles dafürspricht, dass die „ungleiche Vergütung gleichwertiger Arbeit“, auf die mithilfe von Art 157 AEUV zunächst ein Angehöriger eines Geschlechts verweist, – wenn auch in mehreren Schritten – letztlich geschlechterübergreifend und damit insgesamt zu einer Anpassung nach oben, also zum Schließen eines Equal Pay Gap führt.

Über dieses Endergebnis mag man angesichts des ursprünglichen Ausgangspunkts streiten. Maßgeblich für die Praxis ist jedoch, dass der 8. Senat nunmehr tatsächlich diese Entscheidung des EuGH in seiner Begründung mehrfach (Rz.23, 32) ausdrücklich in Bezug genommen hat. Zudem hat er an anderer Stelle (Rz. 26) nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nach dem EntgTranspG eine entsprechende Benachteiligung vorliegt,

  • wenn eine Beschäftigte oder ein Beschäftigter bei gleichwertiger Arbeit eine geringere Vergütung erhält als eine Beschäftigte oder ein Beschäftigter des jeweils anderen Geschlechts.

Es spricht daher Vieles dafür, dass das der 8. Senat am Ende insgesamt eine geschlechterübergreifende Anpassung vornehmen dürfte. Anderenfalls würden bspw. Männer, die genauso wenig wie die zunächst benachteiligten Frauen verdienen würden, dann diesen gegenüber benachteiligt, wenn nur die Vergütung der Frauen nach oben angepasst würde.

2. Die Bestimmung „gleichwertiger Arbeit“ im Vertriebsaußendienst und die zuvor vereinbarte Vergütungshöhe

Angesichts dessen steht und fällt die Entscheidung über eine – am Ende wohl geschlechterübergreifende – Anpassung nach oben letztlich an zwei Schnittstellen:

  • Bei der Eingangsfrage, ob eine „gleichwertige Tätigkeit“ im Sinne des Art 157 AEUV vorliegt, da dies für den Nachweis einer (geschlechterbezogenen) Benachteiligung erforderlich ist,
  • und bei der Folgefrage, welche Anforderungen an die Widerlegung einer so dargelegten Vermutung nach § 22 AGG zu stellen sind.

 

a) zur „ungleichen Vergütung einer gleichwertigen Tätigkeit“ von zwei Mitarbeitern im Vertriebsaußendienst

Zur Besonderheit des Sachverhalts gehörte, dass die Arbeitgeberin im Nachgang zu den individuellen Vereinbarungen ein tarifliches Vergütungssystem vereinbart hatte, in dem dann beide Tätigkeiten als „gleichwertig“ eingeordnet worden waren. Insoweit schien daher kaum ein Vortrag denkbar, mit dem sich der die Arbeitgeberin ohne widersprüchliches Verhalten von dieser von ihr selbst bestätigten Einordnung hätte lösen können.

Der 8. Senat hat sich aber darauf nicht beschränkt, sondern arbeitet den gleichwohl erfolgten Vortrag der Arbeitgeberin, warum die Tätigkeit nicht „gleichwertig“ sei, vielmehr im Einzelnen ab:

  • die Unterschiede der Kunden konnten nicht substantiiert dargelegt werden (Rz. 39),
  • die Ausbildung als „staatlich geprüfter Techniker“ sei nicht relevant, weil keine bestimmte Berufsausbildung gefordert worden und somit auch kein vergütungsrelevanter Unterschied zu einer „Diplomkauffrau“ erkennbar sei (Rz. 40).

Die Frage, ob sich aus diesen Umständen für die Arbeitgeberin gerade mit diesem Kandidaten bei diesen Kunden ggf. insgesamt ein erhöhtes „Vertriebspotential“ ergeben haben könnte, so dass sich die geforderte und auch zugestandene überdurchschnittliche Vergütung am Ende trotzdem besser rechnen könnte als bei einem anderen (männlichen) Kandidaten mit einer dann geringeren Vergütung, zieht das Gericht hingegen nicht in Betracht.

 

b) dadurch aufgeworfene Fragen

Mit Blick auf die zuvor unter II. und III. skizzierten Beobachtungen aus der Praxis über die Kriterien, die zumindest nach meiner Erfahrung sowohl Mitarbeiter als auch Arbeitgeber bei der monetären Bewertung eine Tätigkeit im Vertrieb anlegen, überzeugt diese Begründung nicht.

  • Sie wird zum einen nicht dem Umstand gerecht, dass allen Beteiligten im Vertrieb bewusst ist, dass die Festlegung der konkreten Höhe der Vergütung mehr als anderswo von einer Vielzahl individueller Kriterien abhängt, die sich letztlich immer nur zu einer äußerst vagen betriebswirtschaftlichen Gesamtprogose der Arbeitgeberin für die Zukunft zusammenfügen, für die es aber insbesondere auch für sie keinerlei Garantie gibt,
  • zudem eignen sich diese Kriterien im Zweifel schon deshalb nicht für einen „objektiven“ Vergleich der verschiedenen Kandidaten, weil sie im Hinblick auf den späteren Vertriebserfolg nur bedingt „objektiv“ messbar oder vergleichbar sind, wie hier bspw. die Qualifikation als Techniker oder Diplombetriebswirtin,
  • erschwerend kommt hinzu, dass es auf der anderen Seite kaum eine Tätigkeit gibt, die von so großer betriebswirtschaftlicher Bedeutung für ein Unternehmen ist, dass begründeterweise ein erhöhtes Bedürfnis an einer insoweit nicht gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsprärogative besteht.

Ohne die tatsächliche „Substantiierungstiefe“ des Vortrags der Arbeitgeberin im Verfahren zu kennen, stellt sich daher im Hinblick auf den einem Arbeitsgericht realistischerweise zuzugestehenden Ãœberprüfungsspielraum die Frage,

  • welcher Mehrwert sich insoweit dann daraus ergeben hätte, wenn die Arbeitgeberin zur Begründung der Vergütungshöhe bspw. umfassend dokumentiert hätte, dass man sich von einem „Techniker“ im Hinblick auf die „technikaffinen Kunden“ X, Y und Z. einen größeren Umsatz verspricht als bei einer „Diplom-Kauffrau“
  • oder welche ggf. noch „weicheren“ Kriterien (Auftreten, Eloquenz) für die Eignung als Vertriebsmitarbeiter für sie bei Auswahl und Vergütungsangebot ggf. zudem eine wesentliche Rolle gespielt haben?

 

c) Korrekturmöglichkeiten

 Der „Webfehler“ des in den zitierten Stellen zum Ausdruck kommenden Begründungsansatzes liegt aus meiner Sicht darin, dass bei einer in diesem Umfang eingeforderten Substantiierung von Vergütungsunterschieden bei Vertriebsmitarbeitern so letztlich eine ähnliche „Tiefe“ an die Begründung gefordert wird, wie bei der hier eingangs skizzierten „performance-basierten“ Beendigung.

Anders als dort blicken die Parteien im Rahmen der Prognose einer betriebswirtschaftlich angemessenen Vergütung aber nicht auf einen zurückliegenden Sachverhalt, sondern in die Zukunft.

Betriebswirtschaftliche Prognosen in die Zukunft kennt das Arbeitsrecht durchaus. Dort wird aber üblicherweise – wie bei der unternehmerischen Entscheidung im Rahmen einer betriebsbedingten Kündigung – schon aufgrund der Risiken regelmäßig deren Richtigkeit unterstellt. Die Arbeitsgerichte beschränken sich dort daher zu Recht allein auf eine Missbrauchsprüfung. Auch insoweit wirkt der vorliegende Begründungsansatz daher ein wenig wie ein Fremdkörper in einem sich allgemein bewährten Arbeitsrechtssystem.

Da der unbestrittene „Prognose“-Charakter der vereinbarten Vergütung im Vertrieb bislang keine Berücksichtigung bei der „Gleichwertigkeitsprüfung“ des Senats gefunden hat, mag hier noch Raum für einen insoweit erweiterten Ansatz bestehen. Dieser mag dann im Einzelfall so durchaus zu abweichenden Ergebnissen führen.

 

d) Anforderungen an die Widerlegung der Vermutung nach § 22 AGG

Die bei der Arbeitgeberin bei der Festlegung der Vergütung vorgenommen Abwägungen greift der Senat in seiner Begründung jedoch bislang allein im Kontext der Widerlegung der zunächst für erfüllt erachteten Vermutung nach § 22 AGG auf.

Die Arbeitgeberin hatte neben den zuvor erwähnten Aspekten vorgetragen, zunächst dasselbe Angebot wie bei der Mitarbeiterin gemacht zu haben. Erst als der Mitarbeiter dieses Angebot nicht angenommen habe, habe sie nachgebessert, weil er für eine geringere Vergütung den Vertrag nicht unterzeichnet hätte. Insoweit habe der Mitarbeiter schlicht besser „verhandelt“.

Anders als die Vorinstanz sah der 8. Senat die Vermutung dadurch nicht als widerlegt an und führt dazu aus:

  • Zum einen könne bei dieser Begründung nicht ausgeschlossen werden, dass das Geschlecht mitursächlich für das Nachgeben des Arbeitgebers gewesen sei (Rz. 57).
  • Würde man den Umstand, dass ein/e Mitarbeiter/in besser verhandelt habe als ein/e Beschäftigte/r des anderen Geschlechts, für sich betrachtet gleichwohl zur Widerlegung der Vermutung der geschlechtsbezogenen Entgeltdiskriminierung ausreichen lassen, könnte sich der Arbeitgeber nur allzu leicht der Beachtung des Grundsatzes der geschlechtsbezogenen Entgeltgleichheit entziehen (Rz. 57).
  • Etwas anderes könne – wie unter Rn. 51 f. ausgeführt – allenfalls im Einzelfall anzunehmen sein, wenn der Arbeitgeber auf eine solche Forderung eingeht, um konkreten Personalgewinnungsschwierigkeiten zu begegnen (Rz. 57).

 

e) dadurch aufgeworfene Fragen

Mich überzeugen die ersten beiden Prämissen mit Blick auf die von mir aktuell in deutschen Unternehmen wahrgenommene Vergütungspraxis im Vertrieb nicht.

  • Zumindest ich habe den vergangenen zwei Jahrzehnten meiner Tätigkeit keine einzige Arbeitgeberin kennengelernt, die dort freiwillig mehr zahlt, als sie muss, um einen konkret ins Auge gefassten Kandidaten oder eine konkret ins Auge gefasste Kandidatin, den oder die sie für den Vertrieb einstellen möchte, an sich zu binden.
  • Dies dürfte – nach allgemeinen betriebswirtschaftlichen Erwägungen, denen Arbeitgeberinnen zumindest üblicherweise folgen – auch der Regelfall und keinesfalls die Ausnahme sein.
  • Die beiden ersten Prämissen der Begründung suggerieren hingegen zwei andere „Regelfälle“:
    • Nämlich das selbst dann „wegen des Geschlechts Aufschläge gezahlt werden“, wenn das nicht für den „konkreten Abschluss im Einzelfall“, um den es eigentlich stets bei der individuell ausgehandelten Vergütung geht, erforderlich ist.
    • Und dass – als Folge davon – auch der Hinweis auf die Erforderlichkeit der höheren Zahlung in der Regel allein deshalb erfolgt, um sich so allzu leicht dem so im Regelfall bewusst umgangenen Gebot der geschlechtsbezogenen Entgeltgleichheit zu entziehen.
  • Zudem stellen auch die „konkreten Personalgewinnungsschwierigkeiten“ kein insoweit maßgebliches Korrektiv dieses Ansatzes dar. Denn die individuelle Entscheidung, für eine bestimmte Mitarbeiterin oder einen bestimmten Mitarbeiter im Vertrieb ggf. etwas mehr als bisher auszugeben, weil man arbeitgeberseitig glaubt, dass es sich am Ende für das Unternehmen (und damit auch alle anderen Mitarbeiter) rechnet, hängt davon nicht ab.

Unabhängig von diesen – ggf. nur subjektiven – Erfahrungswerten spricht aus meiner Sicht für die hier vorgenommenen abweichende Bewertung von „Regel“ und „Ausnahme“ für den Grund einer höheren Vergütung zudem folgendes:

Einstellungen erfolgen in der Regel unter Beteiligung der jeweiligen Personal- bzw. HR-Abteilung. Nahezu alle aktuellen Erhebungen kommen zu dem Ergebnis, dass dort mittlerweile überwiegend Frauen beschäftigt sind. Auch die in der Kategorie „Management“ 2023 aktuell ausgezeichneten „40 HR-Köpfe des Jahres“ bestehen zu zwei Dritteln aus weiblichen Managern. Dass es trotzdem aktuell noch immer den für eine Vermutung notwendigen Regelfall (!) in deutschen Unternehmen darstellen soll, im Vertrieb allein aufgrund des „Geschlechts“ generell Aufschläge zu zahlen, ohne dass dies jeweils für den individuellen Abschluss aus Sicht des Unternehmens im Einzelfall konkret erforderlich gewesen wäre, erscheint – ohne jede weitere Erläuterung – auf Anhieb nicht unbedingt plausibel.

 

f) Korrekturmöglichkeiten

So wenig überzeugend daher das dort skizzierte Regel-Ausnahme-Verhältnis als Ursache für eine unterschiedlich hohe Vergütung ist („bewusste geschlechterbezogene Ungleichbehandlung“ statt „betriebswirtschaftliche Prognose im Einzelfall“), so unzweideutig ist das Ganze dort trotzdem formuliert. Daran hat sich daher einstweilen die Praxis zu orientieren.

Gleichwohl ist der in der Entscheidung lediglich mit „besser Verhandelt“ zu kurz gegriffene Vortrag natürlich etwas, was mit Blick auf die konkrete betriebswirtschaftliche Prognose bei der Einstellung mit deutlich mehr Sachverhalt angefüllt werden kann. Dies mag dazu führen, die bisherige Vermutung im Einzelfall ggf. doch zu widerlegen, selbst wenn eine künftige Entscheidung das in der Entscheidung skizzierte Regel-Ausnahme-Verhältnis nach Blick auf die tatsächliche Praxis trotzdem nicht relativieren sollte.

V. Umgang mit der Entscheidung und Ausblick

Das Potential, dass die Entscheidung – geschlechterübergreifend – für einen „Equal Pay Ansatz“ bietet, dürfte mit Blick auf die hier ausschnittweise zitierten Teile der Begründung erheblich sein.

Gleichwohl bietet die Begründung durchaus Angriffsflächen, die man sich – zumindest für eine Tätigkeit im Vertrieb – mit den hier skizzierten Argumenten zunutze machen kann.

Unabhängig, ob dies künftig dem Grunde nach Gehör findet, wird dies aber auch nur dann gelingen, wenn man einstweilen zudem insbesondere

  • in weitaus größerem Maße als bisher die Erwägungen für die jeweils individuelle Vergütungsentscheidung, insbesondere etwaige Besonderheiten der ggf. individuellen Tätigkeit und der dortigen Anforderungen wie auch insoweit individuelle Qualifikationen dokumentiert, die andere Bewerber nicht aufwiesen,
  • dabei die bisherige Vergütungsstruktur wie auch die jeweils individuell vereinbarten Vergütungsbestandteile in den Blick nimmt,
  • berücksichtigt, dass der Grundsatz der Entgeltgerechtigkeit nicht nur insgesamt, sondern auch bezüglich jedes einzelnen Entgeltbestandteils gilt,
  • weiß, dass andere Aspekte, wie bspw. ein Anspruch auf unbezahlte Freistellung, hierbei nicht einzubeziehen sind, selbst wenn sie einen individuellen Vorteil vermitteln,
  • mit Blick darauf ggf. zusätzliche Entgeltbestandteile ausweist und die dem zugrunde liegenden speziellen Erwägungen dokumentiert.

All dies mag in der Praxis dann helfen.

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