Eine 10-stündige Bahnreise in der 1. Klasse zum Termin bei der Hausärztin am Familienwohnsitz stellt keinen Umstand dar, der ausreicht, Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu begründen, die deren Beweiswert erschüttern, auch nicht, wenn der attestierte Zeitraum am Ende der Kündigungsfrist liegt
LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 13.7.2023 – 5 Sa 1/23
ArbG Stralsund – 2 Ca 151/22
EFZG § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Satz 2
SGB V § 275 Abs. 1a
BUrlG § 9
Das Problem
Der Kläger ist bei der Beklagten als Facharzt für Orthopädie angestellt. Er unterhält eine Zweitwohnung in der Nähe der Arbeitsstätte, jedoch befindet sich sein Familienwohnsitz ungefähr 1000 km entfernt. Der Kläger kündigt das Arbeitsverhältnis zum 28.2.2022.
Am 08.2.2022 sagt der Kläger die Teilnahme an einer Dienstbesprechung ab und meldete sich am darauffolgenden Tag krank. An diesem Tag fährt der Kläger mit der Bahn (1. Klasse) zu seinem Familienwohnsitz und sucht dort die Hausärztin auf, die ihn daraufhin vom 9.2 bis zum 21.2.2022 krankschrieb. Am 22.2. bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses tritt der Kläger seinen bereits vorher genehmigten Resturlaub an.
Die Beklagte zahlt in der Folge für diesen Zeitraum der Erkrankung keine Entgeltfortzahlung an den Kläger aus, die er sodann klageweise geltend macht.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Mit der vorliegenden Berufung verfolgt die Beklagte ihr Begehren weiter.
Die Entscheidung des Gerichts
Das LAG stimmt dem Arbeitsgericht zu. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung („AU“) sei nicht erschüttert.
Zwar können sich Zweifel an der Richtigkeit aus zeitlichen Zusammenhängen ergeben. Jedoch könne nicht bei jeder Arbeitsunfähigkeit innerhalb der Kündigungsfrist eine Erschütterung des Beweiswertes angenommen werden.
Daneben stelle die 10-stündige Bahnreise ebenfalls keinen Umstand dar, der die Erschütterung des Beweiswertes begründe, da die Reise nicht mit der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung eines Facharztes zu vergleichen sei. Die Bahnreise verlange dem Arbeitnehmer keine Konzentration oder körperliche Anstrengungen ab, sondern dieser könne eine entspannte Körperhaltung einnehmen und sich jederzeit bewegen. Dies sei wesensverschieden zu seiner arbeitsvertraglichen Tätigkeit.
Zudem sei im Hinblick auf die Diagnose kein unmittelbarer Besuch eines Arztes in Form eines Notarztes oder Klinikbesuches notwendig gewesen. Vielmehr sei es nachvollziehbar, dass der Kläger seine Hausärztin aufsuche, um eine schnelle Genesung zu erreichen.
Ob der Kläger im Urlaub weiterhin arbeitsunfähig gewesen sei, sei nicht relevant, da der Kläger nur Entgeltfortzahlung für den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verlange. Dem Kläger sei es anheimgestellt, den Urlaub für eine etwaige weitere Genesung zu nutzen, und nicht von seinem Recht aus § 9 BUrlG Gebrauch zu machen.
Konsequenzen für die Praxis
Nachdem die Arbeitgeber nach dem Urteil des BAG vom 8.9.2021 – 5 AZR 149/21 (Erschütterung des Beweiswertes einer AU, die passgenau auf das Ende der Kündigungsfrist ausgestellt wurde, s. ArbRB 2022, 3 [Schewiola]) anfänglich aufgeatmet haben, legt sich diese Hoffnung, dass eine Erschütterung des Beweiswertes leichter gelingen könne. Die Rechtsprechung der LAGs bleibt streng.
Beraterhinweis
Im vorliegenden Fall fehlt die Auseinandersetzung des Gerichts mit der Gesamtsituation sowie insb. die Berücksichtigung des folgenden Umstandes: Der Kläger meldete sich krank und trat an einem Mittwoch den Weg nach Hause mit dem offensichtlich sicheren Gedanken an, dass er krankgeschrieben werde. Ihm wäre es allein zeitlich nicht möglich gewesen, am nächsten Tag seine Arbeit pünktlich anzutreten, wäre die AU-Bescheinigung ausgeblieben.
Dass das Zusammenspiel aller Geschehnisse – Arbeitsunfähigkeit während des letzten Monats der Kündigungsfrist, passgenauer Ablauf der Arbeitsunfähigkeit zum Antritt des Urlaubs bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses sowie eine 10-stündige Bahnreise zum Familienwohnsitz, obwohl er als Chefarzt in einer Klinik vor Ort Methoden und Kollegen zur Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit greifbar hatte –, nicht zur Erschütterung des Beweiswerts ausreichen soll, ist bemerkenswert.
Arbeitgeber haben es vor den Arbeitsgerichten schwer, den Beweiswert einer AU zu erschüttern. Das erscheint, wie im vorliegenden Falle, wie eine Überdehnung des ‚Schutzauftrags‘ der Arbeitsgerichte. Empirisch und subjektiv betrachtet scheint der hochgehaltene „hohe Beweiswert einer AU“ eher eine Reminiszenz an frühere Zeiten zu sein, als ein heute nötiger Schutz der Arbeitnehmer.
Die Erschütterung des Beweiswertes führt im Prozess des Arbeitnehmers auf Gehaltszahlung lediglich dazu, dass dieser den Vollbeweis tatsächlicher Arbeitsunfähigkeit führen muss. Jeder von der Schweigepflicht entbundene Arzt ist da motivierter Zeuge für den Wahrheitsgehalt der von ihm selbst ausgestellten AU.