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Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 15 € unter Umgehung der Mindestlohnkommission wäre verfassungswidrig

avatar  Wolfgang Kleinebrink

In der Öffentlichkeit wird von einigen Parteien eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 15 € gefordert. Eine solche Erhöhung wäre aber nur verfassungsgemäß, wenn sie von der Mindestlohnkommission beschlossen würde.

  1. Eingriff in die Koalitionsfreiheit

Die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit schützt nicht nur die Freiheit des Einzelnen, sondern auch das Recht der Vereinigung selbst, die in der Vorschrift genannten Zwecke durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung zu verfolgen. Wesentlicher Kern der Koalitionsfreiheit ist die Tarifautonomie. Geschützt ist damit insbesondere die von staatlicher Einflussnahme freie Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch den Abschluss von Tarifverträgen. Dies schließt den Bestand und die Anwendung abgeschlossener Tarifverträge ein.

Die Festsetzung eines Mindestlohns greift in diese verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie ein. Liegt das tarifvertraglich festgelegte Arbeitsentgelt in einer oder mehreren Entgeltgruppen unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns, ist die entsprechende tarifvertragliche Regelung nach § 3 MiLoG insoweit unwirksam, als nach § 1 MiLoG n.F., § 20 MiLoG ein Anspruch auf Entgeltdifferenz entstehen kann.

  1. Rechtfertigung des Eingriffs bei Entscheidung durch die Mindestlohnkommission

Ein solcher Eingriff in die Tarifautonomie ist verfassungsrechtlich nur nach § 1 Abs. 2 Satz 2 MiLoG durch die Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns auf Vorschlag einer ständigen Kommission der Tarifvertragsparteien und wegen des dabei einzuhaltenden Verfahrens gerechtfertigt.

Nach geltendem Recht entscheidet allein eine ständige Kommission der Tarifvertragsparteien, die nach § 1 Abs. 2 Satz 2 MiLoG als Mindestlohnkommission bezeichnet wird, über die Anpassung der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns nach § 4 Abs. 1 MiLoG. § 1 Abs. 2 Satz 2 MiLoG sieht ausdrücklich vor, dass die Höhe des Mindestlohns auf Vorschlag dieser Kommission durch Rechtsverordnung der Bundesregierung geändert werden kann.

  1. Zusammensetzung der Kommission

Diese Mindestlohnkommission setzt sich nach § 5 Abs. 1 MiLoG aus einer gleichen Anzahl stimmberechtigter Mitglieder der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite zusammen, die nach § 5 Abs. 1 Satz 2 MiLoG von den Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer vorgeschlagen werden. Ohne Stimmrecht sind nach § 4 Abs. 2 MiLoG Mitglieder aus Kreisen der Wissenschaft beteiligt. Diese Besetzung spiegelt aufgrund der Gegnerfreiheit und der paritätischen Besetzung die Situation in Tarifverhandlungen wider. Dies wird auch durch die Position des Vorsitzenden der Mindestlohnkommission deutlich. Einigen sich die Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag, wird auf Vorschlag der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer jeweils ein Vorsitzender bestimmt. Der Vorsitz wechselt dann gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 MiLoG nach jeder Beschlussfassung zwischen den Vorsitzenden. Der Vorsitzende hat nach § 10 Abs. 2 Satz 4 MiLoG bei Nichteinigung den Stichentscheid.

  1. Das Verfahren in der Mindestlohnkommission

Auch die für die Mindestlohnkommission geltenden Verfahrensregeln weisen einen deutlichen Bezug zu Tarifverhandlungen auf. Nach § 9 Abs. 2 MiLoG hat die Mindestlohnkommission im Rahmen einer Gesamtabwägung zu prüfen, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen und Beschäftigung nicht zu gefährden. Das Gesetz weist die Mindestlohnkommission in § 9 Abs. 2 Satz 2 MiLoG ausdrücklich an, sich bei der Festsetzung des Mindestlohns an der Tarifentwicklung zu orientieren.

Die Kommission schlägt der Bundesregierung nach einem entsprechenden Beschluss gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 MiLoG eine Anpassung des Mindestlohns vor. Eine solche Anpassung kann nicht nur eine Erhöhung, sondern auch eine Beibehaltung oder Absenkung des Mindestlohns beinhalten. Orientierungsmaßstab für die Anpassung ist zwar die Tarifentwicklung, dies bedeutet aber nicht, dass das Tarifentgelt jeder Tarifgruppe die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns erreichen muss. Mindestlohnwirksam können auch andere tarifliche Leistungen sein. Mindestlohnwirksame Leistungen müssen nicht – oder nicht nur – in Tarifverträgen enthalten sein. Sie können sich auch aus Arbeitsverträgen und Betriebsvereinbarungen ergeben. Folgerichtig hält das BAG auch Betriebsvereinbarungen für wirksam, die finanzielle Ansprüche unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns vorsehen. Die Regelungen des Mindestlohngesetzes (MiLoG) lassen die Regelungsbefugnis der Betriebsparteien unberührt.

Nach § 11 Abs. 1 MiLoG obliegt es der Bundesregierung, die vorgeschlagene Anpassung des Mindestlohns durch Rechtsverordnung für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindlich zu machen. Sie kann sich nicht über den Vorschlag hinwegsetzen. Sie hat nur die Möglichkeit, dem Vorschlag zu folgen oder nichts zu unternehmen. Eine Umsetzungspflicht besteht nicht. Der bisherige gesetzliche Mindestlohn bleibt bestehen. Durch dieses Verfahren wird sichergestellt, dass einerseits die Tarifverträge weiterhin Orientierungsmaßstab für die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns sind und andererseits die paritätisch besetzte Kommission der Tarifpartner die alleinige Entscheidung über die Anpassung behält. Dies ist auch dann gewährleistet, wenn die Umsetzung des Vorschlags durch die Bundesregierung nicht erfolgt, da es dann bei der bisherigen Höhe des Mindestlohns bleibt.

  1. Zusammenfassung

Die Regierung ist gut beraten, Überlegungen zur Erhöhung des Mindestlohns auf 15 € nicht zu verfolgen. Eine solche Erhöhung wäre nicht nur verfassungswidrig, sondern auch politisch nicht nachvollziehbar. Das Bundesarbeitsministerium will die Tarifautonomie stärken. Mit dem geplanten Vorgehen wird jedoch genau das Gegenteil erreicht.

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Hinweis der Redaktion:
Weitere Beiträge zum Thema enthält die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift für Arbeitsrecht (ZFA) mit dem Themenschwerpunkt „Lohnpolitik“, z.B.

  • Wolf, Tarifbindung – Zwang ist das falsche Signal, ZFA 2024, 153, und
  • Franzen, Verstaatlichung der Lohnpolitik – Grundrechtliche und unionsrechtliche Rahmenbedingungen, ZFA 2024, 156

– auch abrufbar im Gratis-Test des Aktionsmoduls Arbeitsrecht.

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