Nach der Entscheidung des BAG vom 16.2.2023 (8 AZR 450/21, ArbRB 2023, 67 [Marquardt]) ist der Umstand, dass sich die Parteien eines Arbeitsvertrages im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit auf ein höheres Entgelt verständigen als der Arbeitgeber mit einer Arbeitskraft des anderen Geschlechts mit gleicher oder gleichwertiger Arbeit vereinbart, für sich allein betrachtet nicht geeignet, die Vermutung einer geschlechtsbezogenen Entgeltbenachteiligung nach § 22 AGG zu widerlegen. Kann der Arbeitgeber jedoch darlegen und im Bestreitensfall beweisen, dass das höhere Entgelt wegen der Lage auf dem Arbeitsmarkt erforderlich war, um die offene Stelle mit einer geeigneten Arbeitskraft zu besetzen, veranlasst also die Lage auf dem Arbeitsmarkt einen Arbeitgeber, das Entgelt für eine bestimmte Tätigkeit zu erhöhen, um Bewerbern einen Anreiz zu bieten, dann kann dies geeignet sein, die Vermutung einer Entgeltbenachteiligung zu widerlegen.
Damit hat das BAG an die Entscheidung des EuGH in der Sache Enderby (EuGH, Urt. v. 27.10.1993 – C-127/92) angeknüpft. Die damalige Klägerin war in Großbritannien bei der FHA als Logopädin beschäftigt und war der Auffassung, dass sie beim Entgelt aufgrund des Geschlechts dadurch diskriminiert worden sei, dass die Angehörigen ihres — hauptsächlich von Frauen ausgeübten — Berufs bei ihrem NHS-Dienstalter ein erheblich niedrigeres Entgelt erhielten als die Angehörigen vergleichbarer Berufe, in denen es auf einem gleichwertigen beruflichen Niveau mehr Männer als Frauen gebe. Das erstinstanzliche Gericht war der Auffassung, dass die Gehaltsunterschiede mit den den einzelnen Berufen eigenen Strukturen und insbesondere der Durchführung von getrennten Tarifverhandlungen zusammenhingen, die keinen diskriminierenden Charakter hätten. Der EuGH hat jedoch entschieden, dass der Umstand, dass die Entgelte in je eigenen Tarifverhandlungen für die beiden betroffenen Berufsgruppen festgelegt wurden, die jeweils getrennt durchgeführt wurden und die jeweils innerhalb dieser beiden Gruppen keine diskriminierende Wirkung hatten, der Feststellung, dass dem ersten Anschein nach eine Diskriminierung vorliegt, dann nicht entgegensteht, wenn diese Verhandlungen im Ergebnis zu einer unterschiedlichen Behandlung von zwei Gruppen geführt haben, die denselben Arbeitgeber haben und derselben Gewerkschaft angehören. Wenn der Arbeitgeber einen Unterschied im Entgelt damit rechtfertigen könnte, dass bei jeder dieser Verhandlungen für sich genommen keine Diskriminierung vorliege, könnte er sich der Beachtung des Grundsatzes des gleichen Entgelts leicht durch getrennte Verhandlungen entziehen.
Folgt der EuGH dem Generalanwalt Szpunar, dann führt der Umstand, dass der Arbeitgeber mit unterschiedlichen Gewerkschaften für unterschiedliche Berufsgruppen unterschiedliche Tarifverträge abgeschlossen hat, für sich allein nicht dazu, dass die unterschiedliche Behandlung mit der auch unionsrechtlich geschützten Tarifautonomie gerechtfertigt werden kann. In dem dem EuGH vorliegenden Fall geht es um eine spanische Fluggesellschaft, deren Arbeitsbeziehungen zwischen der Air Nostrum, LÃneas Aéreas del Mediterráneo SA (im Folgenden: Air Nostrum) und ihrem PNC mit dem Kabinenpersonal durch andere Tarifverträge geregelt werden als die Arbeitsbeziehungen zu Flugkapitänen. In der einen Gruppe machen Frauen 94 % und in der anderen Männer 93,71 % des Personals aus. Daher stellt es nach Ansicht der Klägerin eine durch Art. 14 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 verbotene mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei den Arbeitsbedingungen dar, wenn der in der für sie anwendbaren Vereinbarung vorgesehene Tagegeldbetrag erheblich niedriger ist als der Betrag, der in der Vereinbarung für Piloten, die mit einer anderen Gewerkschaft geschlossen wurde, vorgesehen ist.
Der Generalanwalt ist der Ansicht, dass die Autonomie der Sozialpartner im Kontext getrennter und gesonderter Tarifverhandlungen für sich allein kein sachlicher Grund, der nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun habe, sein könne, wenn Art. 23 Abs. 1 Buchst. b RL 2006/54 nicht seiner praktischen Wirksamkeit beraubt werden solle. Auch wenn der Umstand, dass sich die Ungleichbehandlung aus der Anwendung zweier gesonderter Tarifverträge ergibt, als solcher keinen hinreichenden Grund für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts darstellen kann, kann er aber in Verbindung mit anderen Kriterien zur Herausbildung eines sachlichen Rechtfertigungsgrundes beitragen. Dazu kann gehören, dass die Unterschiede auf objektive Faktoren zurückgehen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Weiter führt der Generalanwalt aus, dass, wenn der Arbeitgeber genaue und überzeugende Beweise dafür vorlegen würde, dass sich die Ungleichbehandlung tatsächlich aus einem rechtmäßigen Ziel und nicht aus dem Geschlechtsunterschied ergibt, das vorlegende Gericht zu prüfen hätte, ob das tatsächlich der Fall ist. Diese Beweise könnten sich u. a. auf das Bestehen der jeweiligen Prioritäten der die Arbeitnehmer vertretenden Gewerkschaften beziehen. In diesem Zusammenhang könne sich der Arbeitgeber nicht auf einen Verweis auf zwei gesonderte Tarifverhandlungen beschränken, sondern habe er konkret nachzuweisen, dass die Prioritäten jeder Gruppe unterschiedlich gewesen seien, dass sie wirklich und unabhängig voneinander verhandelt worden seien und dass die Parteien tatsächlich entsprechend ihren jeweiligen Prioritäten verhandelt haben, indem sie auf bestimmte Aspekte bestanden und sich bei anderen flexibel gezeigt haben, um eine Vereinbarung zu erzielen, die den Interessen beider Parteien Rechnung trage. Das vorlegende Gericht sollte insoweit prüfen, ob die von vornherein benachteiligte Gruppe die Unterschiede bei der Höhe der fraglichen Tagegelder in voller Kenntnis der Sachlage akzeptiert und dafür anderen, sich u. a. auf die Arbeitsbedingungen beziehenden Gesichtspunkten Vorrang eingeräumt hat (Schlussanträge vom 6.6.2024 in der Rechtssache C-314/23).
Folgt der EuGH diesen Erwägungen, liegt einmal mehr eine konkrete Begründungslast auf Arbeitgeberseite. Der Hinweis auf die Tarifautonomie als solche sowie auf unterschiedliche Gewerkschaften, die für unterschiedliche Berufsgruppen verhandelt haben, würde nicht genügen, um eine anscheinende mittelbare Diskriminierung zu rechtfertigen.
RA FAArbR Axel Groeger, Bonn
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