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Fehlerquelle Massenentlassungsverfahren

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Fehler in Massenentlassungsverfahren sind wegen der einschneidenden Wirkungen (oftmals Unwirksamkeit der Kündigung nach § 134 BGB i.V. m. § 17 KSchG) aus Arbeitgeber- wie Arbeitnehmersicht wesentliche Prüfungspunkte im Kündigungsschutzverfahren. Das BAG hat im Urteil vom 26.2.2015 (2 AZR 955/13) Ausführungen zum Konsultationsverfahren gemacht, die Anlass zu noch genauerer Beachtung des § 17 Abs. 2 und 3 KSchG und entsprechender Dokumentation auf Arbeitgeberseite geben. Der Blog ist heute etwas länger, weil der zugrunde liegende Sachverhalt die Fehler in der Vorgehensweise so plastisch werden lässt.

Der Arbeitgeber hatte den Betriebsrat im März 2012 über 155 „geplante anzeigepflichtige Entlassungen gem. § 17 KSchG“ informiert und recht oberflächlich eine – schon seit 2007 in einem Interessenausgleich vorgesehene – Betriebsstilllegung zum Zeitpunkt Ende Dezember 2012 geschildert. Der Betriebsrat war dann am 16.3.20112 unter Bezug auf eine Liste, die „die geforderten Angaben gem. § 17 (2) KSchG“ enthalten sollte, um eine Stellungnahme ersucht worden. Bereits am 22.3.2015 erstattete der Arbeitgeber eine Massenentlassungsanzeige und leitete mit E-Mail vom 10.4.2015 ein Schreiben des Betriebsrats vom 3.4.2014 weiter, in dem dieser der Entlassung widersprach. Nach Ablauf der Sperrfrist kündigte der Arbeitgeber.

1. Das BAG hat schon große Zweifel, ob damit das nach § 17 Abs. 2 KSchG erforderliche Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchgeführt worden ist. Zwar könne der Arbeitgeber die sich aus § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG obliegenden Pflichten im Rahmen des Interessenausgleichsverfahrens und damit gleichzeitig mit diesem gleichzeitig erfüllen. Dann müsse er aber hinreichend klarstellen, dass und welchen Pflichten er zeitgleich nachkommen wolle. Die Einleitung des Konsultationsverfahrens erfordert zumindest, dass der Betriebsrat schon erkennbar weiß, dass Entlassungen vorgenommen werden.

a) Der Arbeitgeber hatte durch Interessenausgleich und Sozialplan im Jahr 2007 noch nicht iSv. § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG mit dem Betriebsrat verhandelt. Die Zahl der zu kündigenden Arbeitsverhältnisse war vollkommen ungewiss. Unsicher war sogar, ob es überhaupt zu einer Massenentlassung kommt oder die Mitarbeiter „anderen Orts“ unterkommen können, einen Altersteilzeitvertrag oder Aufhebungsverträge abschließen.

b) Darüber hinaus hat das BAG große Zweifel, ob die Parteien 2012  beraten haben (§ 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG). Der Arbeitgeber berief sich auf im Februar 2012 geführte „Gespräche“ mit dem Wirtschaftsausschuss über die anstehende Betriebsschließung und auf bei „Gelegenheit“ geführte Gespräche unmittelbar mit dem Betriebsratsvorsitzenden. Dass dies nicht genügt, ist an sich klar, wir stellen leider sehr häufig in der Betriebspraxis fest, dass so vorgegangen wird.

Kritisch äußert sich das BAG auch dazu, dass bestimmte „weitere Gespräche“ mit dem Betriebsrat als Gesamtgremium nicht ausdrücklich als Beratungen gem. § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG deklariert worden waren: „Aus dem Umstand, dass zwischen den Betriebsparteien überhaupt verhandelt wurde, kann deshalb nicht geschlossen werden, dabei müsse es zwangsläufig um Beratungen iSv § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG gegangen sein“.

c) Schließlich sei die Unterrichtung vom 16.03.2012 (zugegangen am 19.3.2012) eine bloße Unterrichtung, aber kein Angebot zu weiteren Gesprächen gewesen. Es handele sich um ein Informationsschreiben, nicht um ein Angebot zu Beratungen bzw. Verhandlungen im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG.

d) Das BAG führt in Rz. 29 aus, dass im Lichte von Art. 2 der RL 96/59/EG des Rates vom 20.7.1998 (MERL) und nach Systematik und Sinn und Zweck des § 17 Abs. 2 KSchG alles dafür spricht, dass nach vervollständigter Unterrichtung des Betriebsrats eine „finale“ Reaktion erfolgt, die eine entsprechende einheitliche Willensbildung, mithin also eine „Schlussberatung“ zuvor bedingt. Das BAG verweist den Arbeitgeber darauf, er müsse eine Reaktion des Betriebsrats auf die „abschließende Unterrichtung erbitten und abwarten“. Dazu könne er eine zumutbare Frist setzen (Rz. 29 a.E.).

In den Orientierungssätzen bzw. weiterführenden Hinweisen verweist der Senat darauf, er habe dies hier konkret nicht zu entscheiden gehabt. Offengelassen wird auch, ob der Beratungsanspruch des Betriebsrats zumindest dann als erfüllt angesehen werden darf, wenn entweder die auf die finale Unterrichtung erbetene Reaktion (Schlussberatung) nicht binnen zumutbarer Frist erfolgt oder sie aus Sicht des Arbeitgebers keinen Ansatz für weitere, zielführende Verhandlungen bietet (so die Formulierungen).

2. Die Wirksamkeit der – in erster und zweiter Instanz als wirksam angesehenen – Kündigung scheitert nach Auffassung des BAG in jedem Fall an § 17 Abs. 3 KSchG, der Verstoß hiergegen führt zur Nichtigkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB. Der Arbeitgeber muss seiner schriftlichen Anzeige die Stellungnahme des Betriebsrats „zu den Entlassungen“ beifügen (§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG). Die Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats bzw. das Vorbringen des Arbeitgebers zum Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG ist Wirksamkeitsvoraussetzung der Massenentlassungsanzeige (BAG v. 21.3.2013 – 2 AZR 60/12, Rz. 34).

a) Eine Stellungnahme des Betriebsrats wäre entbehrlich, wenn ein Interessenausgleich mit Namensliste vereinbart worden wäre, § 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG. Das konnte man in dem Interessenausgleich von September 2007 nicht sehen.

b) Logischerweise erfüllt eine eindeutige Mitteilung des Betriebsrats § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG (BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, Rz. 53). Das lag hier ebenfalls nicht vor.

c) Verweigert der Betriebsrat eine Stellungnahme oder ist seine Erklärung unzureichend – unklar in der Aussage oder diffus – kann der Arbeitgeber aus Vorsorgegründen gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG verfahren. Zwei Wochen nach vollständiger Unterrichtung kann er rechtssicher und rechtswirksam unter Darlegung „des Stands der Beratungen“ Massenentlassungsanzeige erstatten (BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, Rz. 57). Den Stand der Beratungen hat der Arbeitgeber aber hier nicht dargelegt. Dass der Agentur für Arbeit vorlegte Widerspruchsschreiben des Betriebsrats enthielt keine Ausführungen zu bereits erfolgten Beratungen und deren Ergebnissen.

d) Es kam also darauf an, ob im vom Arbeitgeber nachgereichten „Widerspruch“ mit Schreiben vom 3.4.2012 eine Stellungnahme des Betriebsrats i.S.v. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG zu sehen war.

Dazu führt der Senat aus, dass – obwohl § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG keine expliziten Aussagen zum erforderlichen Inhalt der Stellungnahme treffe und der Arbeitgeber diesen Inhalt nicht beeinflussen könne – nicht jede Äußerung des Betriebsrats den gesetzlichen Anforderungen genüge. Der Betriebsrat müsse sich in einer Weise äußern, die erkennen lasse, dass er seine Beteiligungsrechte als gewahrt ansehe und dass es sich um eine abschließende Erklärung zu der Kündigung handele. Hintergrund ist, dass die Agentur für Arbeit erkennen muss, welche Möglichkeiten der Betriebsrat sieht, die Kündigung zu vermeiden und zu belegen, dass soziale Maßnahmen mit dem Betriebsrat beraten und getroffen worden sind.

Der Betriebsrat hatte in seinem Widerspruchsschreiben vom 3.4.2012  ausgeführt, er sehe für „alle betroffenen Arbeitnehmer Unterbringungsmöglichkeiten“ und erachte die Kündigungen für vermeidbar. Gerade nicht hatte er erklärt, er sehe seinen Verhandlungs- und Beratungsanspruch nach § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG als erfüllt. Das Gegenteil ist der Fall gewesen: „Der Betriebsrat würde es entsprechend bevorzugen, mit Ihnen über jede(n) einzelne(n) Mitarbeiter(in) dahingehend zu beraten, welche Möglichkeiten für eine Weiterbeschäftigung bei D und/oder T bestehen …. Vor diesem Hintergrund fordert der Betriebsrat Sie auf, von Ihrem Kündigungsvorhaben abzulassen und auf die Einhaltung der Beschäftigungszusagen von D oder T hinzuwirken.“

3. Dieser vom BAG entschiedene Fall ist geradezu ein Schulbeispiel, einmal unpräzisen Vorgehens im Rahmen des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 und 3 KSchG und zum anderen eines überhasteten  und unstrukturierten Vorgehens, nachdem der Arbeitgeber am 22.3.2012 – möglicherweise mit Blick auf Quartalskündigungsfristen – eine Massenentlassungsanzeige erstattet hatte und dann eine E-Mail des Betriebsrats (das Schreiben vom 3.4.2012) als angebliche abschließende Stellungnahme weitergeleitet hatte, möglicherweise im Hinblick darauf, das Verfahren nicht eingehalten zu haben. Die Auswirkungen sind massiv: Sämtliche 155 ausgesprochenen Kündigungen – darunter die des Klägers, der Betriebsratsmitglied und Schwerbehindertenvertreter gewesen war – sind nach § 134 BGB nichtig.

4. Die Einhaltung der vom BAG auch durch dieses Urteil weiter verschärften Anforderungen an die Massenentlassung und die vorhergehende Konsultation sollte aber nicht davon ablenken, dass daneben – auch bei Vereinbarung einer Namensliste nach § 1 Abs. 5 KSchG – eine ordnungsgemäße Anhörung nach § 102 BetrVG insbesondere zur Sozialauswahl stattzufinden hat (so es denn nicht wie hier um die Schließung eines gesamten Betriebes geht). Der Unterzeichner ist Prozessvertreter in einem Fall, in dem man das Verfahren nach § 17 Abs. 2 und 3 KSchG richtig durchgeführt hat, aber der Arbeitgeber nicht darlegen kann, wann und bei welcher Gelegenheit und mit welchem Inhalt der Betriebsrat über die Sozialauswahl unterrichtet worden ist.

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Hinweis der Redaktion: Vertiefende Informationen zum Thema finden Sie im Tschöpe, Arbeitsrecht-Handbuch (Teil 3 J Rz. 156 ff.):

RA FAArbR Dr. Detlef Grimm ist Partner bei Loschelder Rechtsanwälte, Köln. Er gehört zum festen Autorenteam des Arbeits-Rechtsberaters und ist Mitautor des Arbeitsrecht Handbuchs (Hrsg. Tschöpe) sowie des Handbuchs Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst (Hrsg. Groeger).

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