Otto Schmidt Verlag

ArbRB-Blog

www.au-schein.de – Ein (Alb-)Traum für Blaumacher? Oder das Ende des hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?

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Grimm hat in einem Blog-Beitrag am 1.4.2019 auf die Möglichkeit einer Internet-Krankschreibung hingewiesen, auf die er in einem Artikel im Spiegel gestoßen war. Mittlerweile zieht diese vereinfachte Möglichkeit, an eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu kommen, weitere (Presse-)Kreise. Unter der Überschrift „So kommt die Krankschreibungen per WhatsApp“ beschreibt die Bild-Zeitung am 3. April 2019 detailliert, wie interessierte Arbeitnehmer eine derartige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bekommen, ohne mit dem ausstellenden Arzt jemals persönlich in Kontakt getreten zu sein. Das Fazit des Berichts: „Ein Traum für Blaumacher? Irgendwie schon.“ Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob an dem hohen Beweiswert, den die Rechtsprechung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beimisst, festgehalten werden kann oder ob diese neue telemedizinische Möglichkeit das programmierte Ende dieses erhöhten Beweiswerts darstellt (zum hohen Beweiswert BAG v. 1.10.1997 – 5 AZR 726/96; ausf. Schliemann/Vogelsang in HWK, 8. Aufl. 2018, § 5 EFZG Rz. 38 ff.).

Unter www.au-schein.de ist es möglich, durch das bloße Anklicken von Symptomen und Risikoausschlüssen zu einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu kommen, die dem Kunden – von Patient wird man kaum sprechen können – mittels WhatsApp und zusätzlich per Post zugeht. Der Dienstleister preist seinen Dienst wie folgt an:

„Bei Erkältung erhalten sie für 9.- € eine gültige Krankschreibung vom Tele-Arzt über WhatsApp und per Post.“ Zusätzliche Glaubwürdigkeit und zusätzliche Rechtssicherheit soll u.a. durch folgenden Hinweis vermittelt werden:

„Danke für über 3000 AU-Scheine und 100 % Akzeptanz bei Arbeitgebern und Krankenkassen!“ Ferner wird unter der Rubrik „Mehr Infos“ auf Folgendes hingewiesen: „Ihr Arbeitgeber und Krankenkasse können grundlos misstrauisch werden und sogar abwegige Rechtsansichten vertreten zu ihrem Nachteil, nur weil der Arzt an einem anderen Ort sitzt und die Wahrscheinlichkeit von Blaumachen bei Telemedizin höher eingeschätzt wird.“ Dies steht allerdings in einem gewissen Widerspruch zu der „100 % Akzeptanz bei Arbeitgebern und Krankenkassen“. Außerdem wird am Ende darauf hingewiesen: „Sicher & rechtmäßig! Von Rechtsanwälten bestätigt.“

Die Vorgehensweise des Anbieters hat ihren Ursprung in neuen Möglichkeiten, die durch eine Änderung der (Muster-) Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte eröffnet werden. Bisher konnte ein Arbeitnehmer den für einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall notwendigen Beweis einer Arbeitsunfähigkeit durch die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führen. Erst wenn es dem Arbeitgeber gelang, diesen Beweiswert dadurch zu erschüttern, dass er Tatsachen vortrug und gegebenenfalls bewies, die ernsthafte Zweifel am Wahrheitsgehalt der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufkommen ließen, musste der Arbeitnehmer die von ihm behauptete Arbeitsunfähigkeit auf andere Weise beweisen (s. nur BAG v. 1.10.1997 – 5 AZR 726/96).

Die neuen telemedizinischen Möglichkeiten und deren im Einzelfall bereits erfolgte „Umsetzung“ führen dazu, dass – wie Grimm bereits zutreffend ausgeführt hat – an diesem hohen Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht uneingeschränkt festgehalten werden kann. Die neuen telemedizinischen Möglichkeiten erlauben es Ärzten nicht, ohne eine persönliche Untersuchung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auszustellen. Insbesondere das nun bereits anzutreffende Geschäftsmodell einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per WhatsApp verstößt gegen die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien. Ein Arbeitgeber, dem eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt wird, vermag aus ihr nicht zu ersehen, ob diese nach einer persönlichen Untersuchung oder lediglich aufgrund einer – wie auch immer gearteten – telemedizinischen „Behandlung“ ausgestellt wurde.

Damit hat der Dienstleister das Ende des hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingeleitet. Zudem führt die Nutzung von WhatsApp auf Diensthandys regelmäßig zur Urheberrechtsverletzung und ist unabhängig hiervon allgemein mit datenschutzrechtlichen Bedenken verbunden.
Die „Pointe“ des Dienstleistungsangebots besteht aber darin, dass der Anbieter erkennbar nicht zwischen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit unterscheiden kann, wenn er Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei Erkältungen ausstellt. Ein Arbeitnehmer, der den Dienst nutzt, wird deshalb regelmäßig mit einer solchen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seine Arbeitsunfähigkeit nicht beweisen können.

§ 3 Abs. 1 EFZG setzt voraus, dass eine Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit vorliegt. Dabei dürfen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit nicht miteinander gleichgesetzt werden. Dies verkennt der Anbieter. Nicht jede Krankheit führt zur Arbeitsunfähigkeit. Nur wenn die Krankheit zur Arbeitsunfähigkeit wird und diese Arbeitsunfähigkeit eine Verhinderung des Arbeitnehmers an der geschuldeten Arbeitsleistung zu Folge hat, besteht ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung (ausf. Schliemann/Vogelsang in HWK, 8. Aufl. 2018, § 3 EFZG Rz. 33). Eine Krankheit liegt vor, wenn eine regelwidriger Körper- oder Geisteszustand gegeben ist, der einer Heilbehandlung bedarf (BAG v. 7.8.1991 – 5 AZR 410/90). Infolge dieser Krankheit muss der Arbeitnehmer gehindert sein, die von ihm geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Mag es sich bei einer Erkältung auch um eine Krankheit handeln, ist diese Voraussetzung nur selten gegeben. So führt eine Erkältung bei einer Sekretärin z.B. nicht zur Arbeitsunfähigkeit, da sie die von ihr geschuldete Tätigkeit trotz dieser Erkrankung erbringen kann. Anders mag dies zum Beispiel bei einem Mitarbeiter eines Herstellers von Computerprozessoren sein, der im Reinraum arbeitet und bei dem durch heftiges Niesen das Arbeitsergebnis negativ beeinflusst werden kann.

Der Anbieter verstößt damit auch gegen die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien. Nach § 2 Abs. 1 dieser Richtlinien gilt:

„Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn Versicherte auf Grund von Krankheit ihre zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen können. 2Bei der Beurteilung ist darauf abzustellen, welche Bedingungen die bisherige Tätigkeit konkret geprägt haben. 3Arbeitsunfähigkeit liegt auch vor, wenn auf Grund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen.“

Nur wenn eine Arbeitsunfähigkeit in diesem Sinne vorliegen, darf eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt werden. Jeder Kunde mag vor diesem Hintergrund beurteilen, ob die 9.- € gut angelegt sind. Arbeitgeber sollten ihrerseits verstärkt Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zumindest dann verstärkt anzweifeln, wenn sie nur für kurze Zeit ausgestellt sind.

Die ausführliche Begründung für das vorprogrammierte Ende des hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung lesen Sie in Heft 5 des ArbRB.

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Prof. Dr. Wolfgang Kleinebrink, Geschäftsführer der Vereinigung Bergischer Unternehmerverbände (VBU®) e.V., Honorarprofessor an der Hochschule Niederrhein, Geschäftsführer der Textilakademie NRW gGmbH.

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