Die Einordnung von Dienstreisen als (vergütungsrechtliche) Arbeitszeit kann seit der Entscheidung des BAG vom 17.10.2018 (5 AZR 553/17, ArbRB 2019, 35 [Groeger]) als geklärt angesehen werden. Für die arbeitszeitrechtliche Dimension der Dienstreise gilt das bislang nicht. In dieser Frage stellt das BAG bislang auf die sogenannte Beanspruchungstheorie ab: Der Grad der Beanspruchung des Arbeitnehmers während der Reise soll maßgeblich sein. Nur wenn die Beanspruchung derjenigen bei der Ausführung der herkömmlichen Arbeit entspricht, sollen Reisezeiten als Arbeitszeit im Sinne des § 2 ArbZG zu qualifizieren sein. Dies soll nur dann der Fall sein, wenn der Arbeitnehmer auf der Reise tatsächlich arbeitet oder auf Anordnung des Arbeitgebers ein Fahrzeug selbst steuert; die Dienstreise in öffentlichen Verkehrsmitteln soll demgegenüber keine Arbeitszeit darstellen, sondern lediglich ein für den Gesundheitsschutz unerhebliches „Freizeitopfer“ (BAG vom 11.07.2006 – 9 AZR 519/05, ArbRB 2007, 67 [Marquardt]). Dem folgt die bislang wohl noch überwiegende Auffassung (vgl. z.B. Lunk, FS Schmidt, 2021, 335, 346 m.w.N.; Peters, WeisungsR, 2021, Rn. 255; Stöhr/Stolzenberg, NZA 2019, 505; Schulze/Wannisch, ArbRAktuell 2019, 453, 455), auch wenn diese zunehmend kritisch in Frage gestellt wird (vgl. nur Preis, jM 2020, 367; ErfK/Roloff, § 2 ArbZG Rn. 21).
Zweifel an der Auffassung des BAG kamen aufgrund der unionsrechtlichen Determination des Arbeitszeitbegriffs spätestens mit den Schlussanträgen des Generalanwalts Pitruzella vom 06.10.2020 betreffend die arbeitszeitrechtliche Einstufung von Bereitschaftsdiensten auf. Nach Auffassung des Generalanwalts ist der entscheidende Faktor für die Einstufung einer Rufbereitschaft als Arbeitszeit die Intensität der Einschränkungen, die sich aus der Weisung des Arbeitgebers ergibt; insbesondere ist zu berücksichtigen, ob der Arbeitnehmer durch eine Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit daran gehindert ist, seine persönlichen und familiären Interessen und seine Freiheit, sich vom Arbeitsplatz wegzubewegen, wahrzunehmen. Diesem Votum ist der EuGH gefolgt: die Einstufung einer Rufbereitschaft als Arbeitszeit kann sich auch daraus ergeben, dass die dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit begrenzen, während der Rufbereitschaft diejenige Zeit, in der seine Arbeitsleistung nicht in Anspruch genommen wird, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen (EuGH vom 09.03.2021, C-580/19, und C-344/19, ArbRB 2021, 162 [Kühnel]). Nicht allein die objektive Belastung des Arbeitnehmers, sondern auch die Beeinträchtigung des Freizeitwerts kann eine Rufbereitschaft daher zur Arbeitszeit qualifizieren.
Es liegt nahe, dass sich aus dieser Rechtsprechung Implikationen auch für die Bewertung von Reisezeiten ergeben: Ein Arbeitnehmer, der eine mehrstündige Dienstreise absolviert, kann zwar in begrenztem Umfang private Handlungen vornehmen (lesen, schlafen, streamen), eine freie individuelle Gestaltung dieser Zeit ist allerdings aufgrund der räumlichen Beschränkung auf das Verkehrsmittel nicht möglich. Der EFTA-Gerichtshof hat nunmehr denselben Schluss gezogen: Demnach ist Arbeitszeit i.S.v. Art 2 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG auch die für eine Dienstreise auf Geheiß des Arbeitgebers aufgewendete Zeit. Unerheblich ist dabei sowohl das Maß der Arbeitsintensität während der Reise als auch die Frage, ob die Reise inner- oder außerhalb des Gebiets des EWR erfolgt. Damit gilt die gesamte Reisezeit als Arbeitszeit, lediglich die am Zielort in einem Hotel oder einer anderen Unterkunft verbrachte Zeit kann demgegenüber als Ruhezeit behandelt werden (EFTA-Gerichtshof vom 15.07.2021 – E-11/20, Eyjólfur Orri Sverrisson ./. Island).
Die Annahme, dass der EuGH zu einer entsprechenden Bewertung gelangen wird, liegt durchaus nahe. Damit besteht allerdings dringender Handlungsbedarf für eine Anpassung des Arbeitszeitrechts, will man nicht künftig vor dem Problem stehen, Dienstreisen in achtstündige Sequenzen aufteilen zu müssen, um dem Arbeitszeitrecht zu genügen. Unionsrechtlicher Spielraum wäre gegeben; Art. 3 der Richtlinie 2003/88/EG ließe eine tägliche Höchstarbeitszeit von 13 Stunden ebenso zu wie Art. 17 Abs. 3 lit.a eine Ausnahmeregelung für reisende Arbeitnehmer, sofern gleichwertige Ausgleichsruhezeiten oder ein anderes angemessenes Schutzniveau vorgesehen sind. Nachdem immerhin der Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen vorsieht, dass im Rahmen von Experimentierräumen eine „begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit“ geschaffen werden soll, bleibt zu hoffen, dass auch das Problem der Reisezeiten einer gesetzlichen Lösung zugeführt wird.
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Hinweis der Redaktion: Antworten auf nahezu alle individualarbeitsrechtlichen Fragen zur Dienstreise liefert ein aktueller Beitrag von Prof. Dr. Stefan Lunk in ArbRB 2021, 371, auch abrufbar im Rahmen eines Gratis-Test der Zeitschrift oder unserer Datenbank.