Die Diskussion um die Reichweite der Verpflichtung eines Arbeitnehmers, im Annahmeverzug der Arbeitgeberin anderweitigen Erwerb zu erzielen, bleibt in Bewegung und ist insbesondere im Hinblick auf die dem Arbeitnehmer abzuverlangenden Bewerbungsbemühungen weiter uneinheitlich. Die Rechtsprechung ist getragen von dem Bemühen der Judikative, der arbeitsrechtlichen Praxis verlässliche und handhabbare Werkzeuge an die Hand zu geben, wenngleich das Bemühen um abstrakte Leitlinien nur begrenzt gelingen kann, da mit der Bewertung eines Verhaltens als „böswillig“ stets eine individuelle einzelfallbezogene Wertung verbunden sein muss. Einige der aktuellen Fragestellungen hat das LAG Baden-Württemberg mit Urteil vom 3.5.2024 (Az. 9 Sa 4/24) beleuchtet:
- Verlauf des Kündigungsschutzverfahrens: Das LAG Baden-Württemberg hat Bewerbungen des gekündigten Arbeitnehmers für unzumutbar erachtet zu einem Zeitpunkt, als der Kammertermin in dem Bestandsschutzverfahren unmittelbar bevorstand und die Kündigungsfrist noch nicht abgelaufen war: „Es ist dem Kläger zuzubilligen, dass er, bevor er mit Bewerbungen auf Stellenangebote für die baldige Aufnahme einer neuen Tätigkeit beginnt, einen zeitnahen Kammertermin abwarten darf, um Klarheit darüber zu haben, ob der Arbeitgeber im Falle einer obsiegenden erstinstanzlichen Entscheidung an der Kündigung festhält.“ Erst wenn die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer nach obsiegendem Urteil nicht zeitnah zur Arbeitsaufnahme auffordere, sei dieser gehalten, mit Bewerbungen zu beginnen.
- Interessen der potentiellen neuen Arbeitgeberin: Es ist anerkannt, dass die Verpflichtung des Arbeitnehmers, sich um anderweitigen Erwerb zu bemühen, nicht um den Preis erfolgen muss, die Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz zu gefährden. Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, Möglichkeiten zur Erzielung von Zwischenerwerb zu realisieren, nicht jedoch, in Abkehr von dem bisherigen Arbeitsverhältnis ein auf Dauer angelegtes neues Anstellungsverhältnis einzugehen. Dies begründet bei der Annahme einer Verpflichtung zu Bewerbungsbemühungen ein Spannungsfeld zwischen dem nicht ernsthaft wechselwilligen Arbeitnehmer und der potentiellen neuen Arbeitgeberin, deren Interesse regelmäßig auf eine dauerhafte Einstellung angelegt ist. Darf der Arbeitnehmer dies im Bewerbungsverfahren offenlegen? Ja, meint das LAG Baden-Württemberg: Der Arbeitnehmer sei „schon alleine aus Gründen des Anstandes berechtigt“, seinen Wunsch, in das bisherige Arbeitsverhältnis zurückzukehren, einer potentiellen neuen Arbeitgeberin mitzuteilen. Auch spreche in der konkreten Situation viel für eine rechtliche Verpflichtung zu einer Offenlegung dieses Umstandes nach § 241 Abs. 2 BGB. Dem ist zuzustimmen; auch eine potentielle neue Arbeitgeberin darf berechtigterweise erwarten, dass ein Bewerber Umstände, die einer dauerhaften Zusammenarbeit entgegenstehen können, wahrheitsgemäß mitteilt (Oberthür, NZA 2024, 1010 [1013]).
- Interessen des Arbeitnehmers an der Wahrung seiner Reputation auf dem Arbeitsmarkt: Das LAG Baden-Württemberg hat zutreffend auch die Interessen des Arbeitnehmers, sich nicht durch nicht ernstgemeinte Bewerbungen auf dem Arbeitsmarkt für künftige Beschäftigungsverhältnisse „zu verbrennen“, berücksichtigt. Angesichts des nicht abgeschlossenen Bestandsschutzverfahrens dürfe dem „Kläger ein entwürdigendes „Klinkenputzen“ bei anderen potentiellen Arbeitgebern durch von vorneherein zum Scheitern verurteile Bewerbungen nicht abverlangt werden“. Der Kläger verliere dadurch möglicherweise die Chance, sich zu einem späteren Zeitpunkt erfolgreich für ein länger andauerndes Arbeitsverhältnis zu bewerben und könnte durch eine Bewerbung mit der Ankündigung, dieses Arbeitsverhältnis im Falle eines Obsiegens im Kündigungsschutzprozess sofort wieder zu beenden, bei diesem Arbeitgeber an Ansehen einbüßen.
- Verantwortungsbereich der Arbeitgeberin und Arbeitsmarktsituation: Im Rahmen der Gesamtabwägung hat das LAG Baden-Württemberg zu Recht auch gewürdigt, dass die Arbeitgeberin durch eine einseitige unwiderrufliche Freistellung den aus Art. 2 Abs. 1, 12 GG folgenden Beschäftigungsanspruch des Klägers vorsätzlich verletzt hatte und sich durch die Zusendung massenhafter Stellenanzeigen den Rechtsfolgen dieser Verletzung der Beschäftigungspflicht, nämlich der Zahlung von Annahmeverzugsvergütung entziehen wollte. Es verweist auf die Erwägungen einer Entscheidung des BAG vom 18.6.1965  (Az. 5  AZR  351/64), die auch heute noch aktuell sind: Der Zweck der Erwerbsobliegenheit des § 615 Satz 2 BGB liegt gerade in den Fällen vorsätzlichen rechtswidrigen Verhaltens der Arbeitgeberin auch bei guter Arbeitsmarktlage nicht darin, die Arbeitgeberin von den Rechtsfolgen des von ihr zu vertretenden Annahmeverzuges zu befreien (ebenso Oberthür, in: Gallner, Jahrbuch des Arbeitsrechts, 2022, S. 55 [59]).
Das LAG Baden-Württemberg konnte bei Abfassung seiner Entscheidung die erst einen Tag vorher im Volltext veröffentlichte Entscheidung des BAG vom 7.2.2024 (Az. 5 AZR 177/23, ArbRB 2024, 161 [Esser]), die insbesondere die Auskunftserteilung gegenüber einer potentiellen neuen Arbeitgeberin anders bewertet hat, noch nicht berücksichtigen. Es hat allerdings die Revision zugelassen, die unter dem Az. 5 AZR 127/24 eingelegt worden ist. Der Instanzendialog bleibt also spannend.
RAin FAinArbR Dr. Nathalie Oberthür ist Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im DAV. Die Arbeitsgemeinschaft, ein Kooperationspartner des Arbeits-Rechtsberaters, lädt regelmäßig zu Fortbildungsveranstaltungen mit interdisziplinärem Austausch ein. Die Herbsttagung 2024 findet am 13./14. September 2024 in den Räumen des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt statt. Das Programm finden Sie hier. Hier können Sie sich direkt online anmelden.